Willi Vogt. Mennonitische Ahnenforschung

 

Buch: Mennonitisches Jahrbuch 1913. D. Epp. 1914. Halbstadt
Artikel: Ein Sonntag von Anno 1840 auf der Insel Chortitza. Nach K. Hildebrandt senior.
 
   
 
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die Flucht zu jagen. Mit frischen vollen Lungen wird gesungen, freilich wohl unter vielen Auf- und Abschreiten der Toene zwischen C und A und dem zweimal gestrichenen C, doch ohne alle Stockungen bis zum Schluss.
Ein paar Minuten des Verschnaufens, dann folgt das Lied vor der Predigt: "Liebster Jesu, wir sind hier! Nr. 86!" - - "86!" - Das Ansagen dieser Nummer haette sich der Vorsaenger ersparen koennen, - denn wo "Liebster Jesu" zu finden sei, wusste damals jeder Ohmke, jede Muhmke, die meisten konnten's von A bis Z auswendig. In jenen alten Zeiten suchten viele schlichte, fromme Gemueter, besonders aber die Muetter, ihren geistlichen Hunger aus dem Gesangbuch zu stillen und waren deshalb auch in demselben besser bewandert, als die meisten Gemeindeglieder von heute. - Doch der Vorsaenger kennt seine Pflicht und ruft die Nummer "86" nochmals mit einem Brusttone aus, dass der dritte Nachbar von der Schule es zu Hause gehoert haette, wenn er daheim geblieben waere*); denn die Fenster nach Jerusalem standen offen beim Gebet, wie einstmals beim Daniel in der Bibel. -
Nun sind auch die drei Strophen dieses Liedes abgesungen. Der liebe Predigerohm, der schon waehrend des Gesanges eingetreten ist, erhebt sich vor seinem Tisch, auf dem ein Buchhalter steht, zieht seine abgeschriebene Predigt, in blauem Zuckerpapierumschlag, aus der inneren Seitentasche seines Rockes heraus und gruesst die Versammlung ohne in sein Heft hineinzuschauen, mit dem apostolischen Gruss: "Der Friede Gottes, welcher hoeher ist." Damit ist die Versammlung in eine Stimmung versetzt, die man zu den Fuessen Jesu findet, und dem Irdischen wird Schweigen geboten. Betrachten wir uns den Mann naeher. Es ist eine zwar schlichte, aber Ehrfurcht gebietende Gestalt, die dort vor der Versammlung steht: Schon in seinem Aeussern ist er ordentlich und sorgfaeltig.
Wenn bei der Wahl hinter dem Ohm eine gute Wirtschaft

*) Anmerkung: Auch heute, 1913 waere es angebracht, wenn die Vorsaenger in der Kirche Lied und Nummer genuegend laut ansagten. Es sind immer alte Leute zugegen, die an Schwehrhoerigkeit leiden und wegen uebergrosser Bescheidenheit der Vorsaenger das Lied nicht finden koennen. Auch bei Trauhandlungen wird oftmals seitens des Brautpaars so ein leises "Ja" gelispelt, das die Versammlung, die doch Zeuge dieses Versprechens sein soll, nichts davon vernimmt. Und das ist nicht recht!

         
 
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Zuletzt geaendert am 1 Juni 2008.