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Ein Sonntag von Anno 1840 auf
der Insel Chortitza.
Nach K. Hildebrandt senior.
Ein herrlicher Maientag ist angebrochen. Die
Natur badet sich im Sonnenglanze des jungen Lenzes. Die Berge
und die Taeler der Insel prangen im satten, glaenzenden Gruen
des aufgefrischten Daseins. Lebensfrohe Lerchen rufen's in
langen Trillern in die Welt hinein: "Neu erstanden ist
das Leben, neu erblueht der Erde Schmuck! Erwache auch du,
o Menschenkind, von deinem unbegreiflichen Schlaf der Gleichgueltigkeit
gegen all das Schoene und Herrliche, das sich dir taeglich
wieder in der goettlichen Schoepfung offenbart!"
Wie ein frisch abpolierter Riesenspiegel glaenzt die glatte
Oberflaeche des breiten Dnjeprstromes, von der aufgehenden
Sonne wunderbar beschienen. Hie und da huepft ein munteres
Fischlein in jugendlichem Uebermut aus der schwarzen Tiefe
empor, die tadellose Glaette des Wassers durch eine Reihe
immer groesser werdender Ringe stoerend. Eine einsame Moewe
streicht drueber weg und badet von Zeit zu Zeit ihre heisse
Brust in der kuehlen Flut.
Aus den Schornsteinen der Haeuser des kleinen Inseldorfes,
die sich in einer, stellenweise von Uferfelsen unterbrochenen
Strassenzeile laengs dem Berge und fast unmittelbar am Flusse
dahin ziehen, steigt feiner, blauer Rauch kerzengerade in
die voellig windstille Luft, beinahe feierlich, wie gewuerzter
Opferrauch von ebenso vielen Hausaltaeren.
Kein Wagen faehrt auf der Strasse, kein Arbeiten, kein Laerm
stoert die weihevolle Stille: 's ist Sonntag, und Sonntagsruhe,
Sonntagsfrieden huellen Natur und Kreatur ein und huellen
wenigstens fuer Stunden auch des Menschen unruhige Brust.
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