Diese Kolonie wurde im Jahre 1805 gegruendet, die Gruender
derselben wanderten aber schon im vorhergehenden Jahr 1804 in Russland ein. Sie
kamen nach einer zwoelfwoechentlichen Reise mit anderen Einwanderern zu den Chortitzer
Glaubensbruedern, wo sie einen langen harten Winder verlebten und einen Teil der
Geldvorraete durch Ankauf von Lebensmitteln fuer die Menschen und das wenige mitgebrachte
Vieh verzehrten.
An dem Orte angelangt, der zur Ansiedlung der Mennonitenbruederschaft
bestimmt war, naemlich an dem Flusse Molotschna, wo schon im Jahre vorher 9 Doerfer
mit 191 Familien angesiedelt waren, wurden fuer 161 Familien, die sich in 8 Kolonien
(1805 wurden hier gegruendet: Tiegenhagen, Petershagen, Schoensee, Ladekopp, Rosenort,
Blumenort, Orloff und Tiege) abteilten, passende Ansiedlungsplaetze ausgesucht
und durchs Los verteilt. Dabei kam die Kolonie Tiege mit noch drei Doerfern an
den ersten Nebenfluss der Molotschna, welcher Kurundujuschanlee genannt wird,
zu liegen, 55 Werst von der damaligen Kreisstadt Orechow entfernt. Das dieser
Kolonie zugehoerige Land zieht sich von Nordwest nach Suedost; dort ist der Steppenfluss
Juschanlee die Grenze zwischen dem Land der Mennoniten und dem der Tataren. Die
Lage des Landes ist so vorteilhaft wie dessen Eigenschaften; das Dorf besitzt
zwei Flussniederungen, welche 4 1/2 und 2 1/2 Dessj. Heuwiese auf den Wirt enthalten.
Durch aufgeschuettete Daemme werden kuenstliche Bewaesserungen hervorgerufen,
welche die Ergiebigkeit der Graswiesen bedeutend erhoehen. Die Oberflaeche des
Steppenlandes ist mit Lehm vermischte Schwarzerde, und an den Abhaengen ist an
Stellen ungemischter Lehm. In den Niederungen ist die Erde schwarz und mit Ausnahme
einiger Salpeterstellen gut und fruchtbar. Steine und Gestraeuch finden sich in
dieser Gegend nicht; erstere muessen 24 Werst weit vom Fluesschen Juschanlee geholt
werden. Man verwendet sie nur fuer die Fundamente der Gebaeude. Die angepflanzten
Baeume wachsen in den Niederungen sowohl als auch auf den Anhoehen sehr gut, haben
aber nicht die Dauer, wie in einigen anderen Gegenden. Dabei fordert die Eigenschaft
des Bodens eine gute Vorbereitung durch mehrmaliges Rigolen. Je laenger und oefter
dies vor den Anpflanzungen betrieben wird, desto sicherer und schneller ist der
Wuchs.
Nicht ohne bange Sorge waren die Gruender, als sie hier die kahle Steppe
sahen und nicht wissen konnten, ob da ein Baum wachsen wuerde. Alle Kunde, die
sie erhielten, machte das zweifelhaft. So dachte wohl mancher an sein altes Vaterland
und die verlassenen schoenen Baeume in den Gaerten. Es waehrte aber nicht lange,
so ersetzten die mitten in der Steppe ueppig prangenden und mit Lust und Liebe
gepflegten Baum und Gartenanlagen den so schmerzlich empfundenen Mangel.
Der
Name Tiege hat seinen Ursprung von einem Fluesschen in Westpreussen, allwo ein
Dorf im Marienburgischen
Bezirke gleichen Namens ist. Aus demselben war ein
Ansiedler mit Namen Kornelius Toews, ein alter Mann von etwa 70 Jahren. Dieser
wuenschte, da das Fluesschen Kurudujuschanlee dem Fluesschen Tiege aehnlich war,
zur Erinnerung an seinen Wohnort in dem alten Vaterland, diesem Dorf jenen Namen
beizulegen. Die Kolonie Tiege wurde von folgenden (nach der Nummer der Baustelle)
aus dem Marienburgischen und Elbingschen Gebiet herkommenden Ansiedlern gegruendet:
Gerhard Kroeker, Klaas Wiebe, Johann Klassen, Peter Kroeker, Klaas Wiens, Abraham
Kroeker, Martin Hamm, Kornelius Toews, Philipp Isaak, Peter Isaak, Witwe Neufeld,
Abraham Fast, Franz Isaak, Jakob Reimer, Abraham Kroeker, Isaak Wall, Johann Wiens,
David Harder, Abraham Toews, Michael Hamm (1855 : 20 Wirtschaften, 34 Anwohnerfamilien
- insgesamt 116 Maenner, 124 Frauen.) Einige von ihnen hatten in Preussen eigene
Wirtschaften besessen, andere aber auch nicht. Dazu war ihnen jede Aussicht, solche
dort zu erlangen, abgeschnitten.
Diese Auswanderer hatten keine besonderen
Anfuehrer und kamen auch nicht in einer Partie hier an. Die Beschraenktheit des
Raumes und des Landes in Preussen war der Hauptbeweggrund ihrer Auswanderung.
Und als sich die Kunde von dem vorteilhaften Angebot des Landes und der damit
verbundenen Mithilfe der russischen Krone sowie auch die zugesicherte Glaubensfreiheit
immer mehr verbreitet und die Hoffnung erweckte, dass ihnen und ihren Nachkommen
in Russland eine glueckliche Zukunft bluehen koenne, da wurde der Entschluss fest,
dahin auszuwandern. Einer teilte dem andern diesen Entschluss mit, und ueber die
notwendige Vorbereitung zur Reise wurde auf Zusammenkuenften beraten. Die Ortsobrigkeit
sowohl als auch die russischen Konsuln in den Staedten standen ihnen mit Rat und
Hilfe zur Seite und erleichterten in mancher Hinsicht das mit Muehen verbundene
Unternehmen.
Die 161 Familien, die in diesem Jahr auswanderten, traten in verschiedenen
Partien zusammen und machten sich im Vertrauen auf den Lenker aller menschlichen
Schicksale ohne besondere Anfuehrer von Segenswuenschen und Abschiedstraenen der
Anverwandten und Nachbarn begleitet auf den Weg, auf dem sie von der Grenzstadt
Grodno an die freundliche Fuersorge ihres neuen Landesvaters in Seinen Anordnungen
verspuerten. Unter solchen Umstaenden kamen sie alle gluecklich und wohlbehalten
an dem Ort ihrer Niederlassung an. Bei der Verteilung der Doerfer aber waehlten
sie sich einen Anfuehrer aus ihrer Mitte, den Ansiedler in der Kolonie Altona
Klaas Wiens, der unter der Oberaufsicht des Vormundschaftskontors in Jekaterinoslaw
das Erforderliche leistete.
Die den Ansiedlern zugewiesene Steppe war mit nomadisierenden
Nogaiertartenen besetzt. Diese hatten damals noch meisten teils nach oben zugespitzte,
mit einem Rauchfang versehene Kibikten als Wohnungen, deren Fachwerk mit von Filzdecken
ueberzogenen Stoecken gebildet war. An einer Seite war ein Loch zum Durchkriechen.
Diese Kibikten waren so leicht, dass man sie bei den haeufigen Wanderungen auf
die zweiraedrigen hoelzernen Wagen laden konnte, an welchen auch nicht die geringste
Spur von Eisen war. Und doch boten diese Huetten Raum fuer eine ganze Familie.
Um
den Nachkommen einen Begriff von dem Gemuetszustand ihrer Vorfahren zu machen,
in welchem sie sich bei der Gruendung der Kolonien befunden haben mochten, sei
hier in kurzem der Unterschied zwischen dem alten und neuen Wohnorte hergestellt.
Sie verliessen in Preussen eine schoene anmutige Gegend; einige hatten gut eingerichtete
Wirtschaften. Dort waren schoene fette Wiesen, mit Baeumen bepflanzte Strassen,
bluehende Gaerten, welche gerade zur Zeit ihrer Abreise mit reifen Fruechten prangten.
Hir fanden sie bei ihrer Ankunft nichts als einen grossen, leeren Raum, eine oede
Steppe, wo kein Strauch oder Baum zu sehen war und kein schuetzendes Dach gegen
die heissen Sonnenstrahlen zu finden war. Eine unbekannte Menschenrasse war ihre
zukuenftige Nachbarschaft, die durch ihr halbwildes Aussehen bange Sorge einfloesste.
Die vielen Entbehrungen, die Ungewisse Zukunft, alles war dazu angetan,
sie truebe zu stimmen und ihnen den Mut zu rauben. Aber hier war keine Zeit zum
Gruebeln und Klagen: Die Baustellen wurden ausgemessen und durchs Los verteilt,
Huetten in und oberhalb der Erde erbaut und zu Wohnungen eingerichtet, mit dem
Bau der Haeuser wurde begonnen und ein Bienenfleiss an den Tag gelegt, wie ihn
die hiesige Gegend wohl noch nie gesehen hatte.
An mitgebrachtem Vermoegen
kann die Dorfsgemeinde etwa 8,500 Rbl. Silber besessen haben, woran aber nicht
jeder einen Anteil hatte. Ausserdem waren Pferde und Wagen, einiges Hornvieh und
Schafe bei den einzelnen Wirten vorhanden. Kornelius Toews und Franz Isaak waren
so wohlhabend, dass sie die Unterstuetzung der Krone entbehren konnten.
Im
weiteren Verlauf ihrer Geschichte unterscheidet sich die Gemeinde nicht von den
bereits geschilderten.
Se. Majestaet der Kaiser Nikolai bestaetigte auf Seiner
Reise durch die Krim das von Kaiser Paul Aliergnaedigst verliehene Privilegium,
Er gab dem Fuersorgekomitee wieder einen Mann in der Person des Wirklichen Staatsrates
von Hahn, zum Vorsitzer, der durch seine mehrmalige Bereisung der Kolonien sich
von der eigentlichen Lage derselben ueberzeugte und nun fortfaehrt mit wahrhaft
vaeterlicher Fuersorge dieselben zum Ziele ihrer Bestimmung
fortzuleiten.
Beisitzer
Aron Hubert, Kornel. Baerkmann,
Schulz Johann Toews,
Schullehrer Peter Sawatzkij.
Quelle:
Odessaer Zeitung. 42. Jahrgang, 1904, Nr. 174