Willi Vogt. Mennonitische Ahnenforschung



Gemeindebericht 1848, das Molotschnaer Mennonitengebiet

 

Gemeindebericht 1848, Mennonitenkolonien.

28. Rudnerweide

Wenn man die auf der nordwestlichen Seite der Kolonie sich allmaehlich erhebende Anhoehe besteigt, die von der Kolonie durch ein kleines Tal getrennt ist, so kann man die zwei Haeuserreihen von Rudnerweide bequem uebersehen. Alle diese Haeuser sind regelmaessig angelegt, zweckmaessig eingerichtet und von einem gefaelligen Ansehen. Was das aeussere dieser Haeuser noch mehr verschoenert, sind die bei denselben regelmaessig angelegten Obstgaerten, die an der Gasse mit wilden Birnbaeumen, zwischen Nachbar und Nachbar mit einer Maulbaerhecke und am hinteren Ende mit einer Hecke von wilden oelbaeumen eingefasst sind. Wendet man sich nach dem nordoestlichen Ende der Kolonie, so erblickt man daselbst ein von weissen Steinen erbautes zweistoeckiges Gebaeude mit weissen hollaendischen Dachpfannen gedeckt, nebst einer vortrefflichen gedeihenden neuangelegten kleinen Gehoelzpiantage. Das Gebaeude ist das Bethaus der ganzen Rudnerweider Kirchgemeinde (Die Rudnerweide Gemeinde gehoerte der friesischen Richtung an), zu dessen Bau Kaiser Alexander I. 10,000 R. Banko geschenkt hat. Etwas weiter suedoestlich befindet sich die Gehoelzplantage der Dorfsgemeinde mit einem Drittel Maulbeerbaeumen, die bereits so viel Laub liefern, dass jeder Wirt jaehrlich ein Pud Seide bauen kann. Diese Plantage enthaelt 16 1/2 Dessj. Flaechenraum. Jeder Wirt besitzt darin ein Quartal von 1/2 Dessj atine. Jedes Quartal ist mit einer Maulbeerhecke und die ganze Plantage mit einer wilden oelhecke umgeben. Von dieser Plantage westlich befindet sich die neulich angelegte Windschutzwehrhecke, welche auf der Suedseite der Kolonie von einem Ende zum anderen reicht und dazu dienen soll, die hinter derselben liegenden Obstgaerten vor Stuermen und Schneegestoeber zu schuetzen. Am suedwestlichen Ende der Kolonie wohnen die landlosen Wirte in ebenfalls regelmaessig erbauten, von kleinen Obstgaerten umgebenen Haeusern. Unter den Gebaeuden zeichnen sich aus; ausser dem Bethaus das massiv erbaute zweistoeckige Gebaeude einer Essigbrauerei nebst einem einstoeckigen Wohngebaeude von weissen Steinen und auf der rechten Seite des Tales, das hier eine suedliche Richtung nimmt, eine massiv erbaute Bierbrauerei. Alle diese Gebaeude sind mit hollaendischen Dachpfannen gedeckt.
Die Kolonie wurde 1820 gegruendet. Die ersten Wohnungen wurden in einer Abteilung der neuerbauten Viehstaelle eingerichtet, zugleich aber auch der Bau von Haeusern vorbereitet. Die Kolonie liegt unweit des Steppenflusses Juschanlee laengs des Tales Sassikulak. Im Sueden und Suedwesten wird sie von der Juschanlee, im Norden von der Tschumakenstrasse und im Osten von der Kolonie Grossweide begrenzt. Die Steppe hat keine Niederungen, der Wasserstand ist 30 bis 50 Fuss tief. Der fruchtbare Boden besteht aus Dammerde. Vom Brachen wird er so locker und fein, dass die haeufigen Stuerme ihne furchentief wegreissen. Der Untergrund liefert guten Ton zu Backsteinen und der gemeine Feldstein im Tal Sassikulak wird zu Fundamenten benutzt.
Die meisten Ansiedler dieser Kolonie stammen aus dem Dorf Rudnerweide in Preussen. Die Benennung jenes Dorfes hatte folgenden Ursprung: Auf der Hoehe, die die Ostseite des Weichseltales beherrscht, liegt das grosse Dorf Rueden. Die Rudner besassen vor Jahren unfern der Weichsel ihre Viehweiden. Als dann auf jener Weide ein Dorf angelegt wurde, bekam es den Namen Rudnerweide, welcher auch auf diese Kolonie uebertragen wurde.
Urspruenglich siedelten sich in dieser Kolonie 24 aus dem preussischen Amtsbezirke Stuhm eingewanderte Familien an, im Jahre 1826 kamen jedoch noch neue Familien aus den Bezirken Marienburg und Marienwerder hinzu (1855: 33 Wirtschaften, 67 Anwohnerfamilien, insgesamt 278 Maenner, 256 Frauen; 1857: 33 Wirtschaften, 190 Maenner, auf 2145 Desj. und 25 landlose Familien, 100 Maenner.). Die meisten der ersten Ansiedler gehoerten zu der Gemeinde des Kirchenaeltesten Franz Goerz, der bereits 1835 hier gestorben ist. Er kam in Gemeinschaft des Lehrers Heinrich Balzer als Anfuehrer einer bedeutenden Partie, von welcher nicht nur diese, sondern mehrere benachbarte Kolonien bevoelkert worden sind, die man als Tochterkolonien von Rudnerweide betrachten kann und auch heute noch der Mehrzahl nach zur Gemeinde des Franz Goerz, dessen Nachfolger Benjamin Ratzlaff ist, gehoeren.
Die hiesige Steppe wurde von Tataren als Weide fuer ihre Herden benutzt und befand sich bei Johann Kornies in Pacht. Da die meisten Ansiedler arm waren, so erhielten sie einen Kronsvorschuss von 12,524 R. 70 K. Banko. Einige von den urspruenglich und spaeter angesiedelten Familien hatten genuegend eigene Mittel, die sich auf etwa 30,000 R. Banko beliefen. Der weitere Verlauf der Geschichte dieser Kolonie weist keine von denjenigen der anderen Kolonien abweichenden Zuege auf.

Schulz Peter Kliewer.
Beisitzer: Andreas Nachtigal, Gerhard Fast.
Schullehrer Jakob Brauel.
25. April 1848.


Quelle: Odessaer Zeitung. 42. Jahrgang, 1904, Nr. 206




Zuletzt geaendert am 1 Mai 2008