Wenn man die auf der nordwestlichen Seite der Kolonie 
sich allmaehlich erhebende Anhoehe besteigt, die von der Kolonie durch ein kleines 
Tal getrennt ist, so kann man die zwei Haeuserreihen von Rudnerweide bequem uebersehen. 
Alle diese Haeuser sind regelmaessig angelegt, zweckmaessig eingerichtet und von 
einem gefaelligen Ansehen. Was das aeussere dieser Haeuser noch mehr verschoenert, 
sind die bei denselben regelmaessig angelegten Obstgaerten, die an der Gasse mit 
wilden Birnbaeumen, zwischen Nachbar und Nachbar mit einer Maulbaerhecke und am 
hinteren Ende mit einer Hecke von wilden oelbaeumen eingefasst sind. Wendet man 
sich nach dem nordoestlichen Ende der Kolonie, so erblickt man daselbst ein von 
weissen Steinen erbautes zweistoeckiges Gebaeude mit weissen hollaendischen Dachpfannen 
gedeckt, nebst einer vortrefflichen gedeihenden neuangelegten kleinen Gehoelzpiantage. 
Das Gebaeude ist das Bethaus der ganzen Rudnerweider Kirchgemeinde (Die Rudnerweide 
Gemeinde gehoerte der friesischen Richtung an), zu dessen Bau Kaiser Alexander 
I. 10,000 R. Banko geschenkt hat. Etwas weiter suedoestlich befindet sich die 
Gehoelzplantage der Dorfsgemeinde mit einem Drittel Maulbeerbaeumen, die bereits 
so viel Laub liefern, dass jeder Wirt jaehrlich ein Pud Seide bauen kann. Diese 
Plantage enthaelt 16 1/2 Dessj. Flaechenraum. Jeder Wirt besitzt darin ein Quartal 
von 1/2 Dessj atine. Jedes Quartal ist mit einer Maulbeerhecke und die ganze Plantage 
mit einer wilden oelhecke umgeben. Von dieser Plantage westlich befindet sich 
die neulich angelegte Windschutzwehrhecke, welche auf der Suedseite der Kolonie 
von einem Ende zum anderen reicht und dazu dienen soll, die hinter derselben liegenden 
Obstgaerten vor Stuermen und Schneegestoeber zu schuetzen. Am suedwestlichen Ende 
der Kolonie wohnen die landlosen Wirte in ebenfalls regelmaessig erbauten, von 
kleinen Obstgaerten umgebenen Haeusern. Unter den Gebaeuden zeichnen sich aus; 
ausser dem Bethaus das massiv erbaute zweistoeckige Gebaeude einer Essigbrauerei 
nebst einem einstoeckigen Wohngebaeude von weissen Steinen und auf der rechten 
Seite des Tales, das hier eine suedliche Richtung nimmt, eine massiv erbaute Bierbrauerei. 
Alle diese Gebaeude sind mit hollaendischen Dachpfannen gedeckt. 
Die Kolonie 
wurde 1820 gegruendet. Die ersten Wohnungen wurden in einer Abteilung der neuerbauten 
Viehstaelle eingerichtet, zugleich aber auch der Bau von Haeusern vorbereitet. 
Die Kolonie liegt unweit des Steppenflusses Juschanlee laengs des Tales Sassikulak. 
Im Sueden und Suedwesten wird sie von der Juschanlee, im Norden von der Tschumakenstrasse 
und im Osten von der Kolonie Grossweide begrenzt. Die Steppe hat keine Niederungen, 
der Wasserstand ist 30 bis 50 Fuss tief. Der fruchtbare Boden besteht aus Dammerde. 
Vom Brachen wird er so locker und fein, dass die haeufigen Stuerme ihne furchentief 
wegreissen. Der Untergrund liefert guten Ton zu Backsteinen und der gemeine Feldstein 
im Tal Sassikulak wird zu Fundamenten benutzt. 
Die meisten Ansiedler dieser 
Kolonie stammen aus dem Dorf Rudnerweide in Preussen. Die Benennung jenes Dorfes 
hatte folgenden Ursprung: Auf der Hoehe, die die Ostseite des Weichseltales beherrscht, 
liegt das grosse Dorf Rueden. Die Rudner besassen vor Jahren unfern der Weichsel 
ihre Viehweiden. Als dann auf jener Weide ein Dorf angelegt wurde, bekam es den 
Namen Rudnerweide, welcher auch auf diese Kolonie uebertragen wurde.
Urspruenglich 
siedelten sich in dieser Kolonie 24 aus dem preussischen Amtsbezirke Stuhm eingewanderte 
Familien an, im Jahre 1826 kamen jedoch noch neue Familien aus den Bezirken Marienburg 
und Marienwerder hinzu (1855: 33 Wirtschaften, 67 Anwohnerfamilien, insgesamt 
278 Maenner, 256 Frauen; 1857: 33 Wirtschaften, 190 Maenner, auf 2145 Desj. und 
25 landlose Familien, 100 Maenner.). Die meisten der ersten Ansiedler gehoerten 
zu der Gemeinde des Kirchenaeltesten Franz Goerz, der bereits 1835 hier gestorben 
ist. Er kam in Gemeinschaft des Lehrers Heinrich Balzer als Anfuehrer einer bedeutenden 
Partie, von welcher nicht nur diese, sondern mehrere benachbarte Kolonien bevoelkert 
worden sind, die man als Tochterkolonien von Rudnerweide betrachten kann und auch 
heute noch der Mehrzahl nach zur Gemeinde des Franz Goerz, dessen Nachfolger Benjamin 
Ratzlaff ist, gehoeren. 
Die hiesige Steppe wurde von Tataren als Weide fuer 
ihre Herden benutzt und befand sich bei Johann Kornies in Pacht. Da die meisten 
Ansiedler arm waren, so erhielten sie einen Kronsvorschuss von 12,524 R. 70 K. 
Banko. Einige von den urspruenglich und spaeter angesiedelten Familien hatten 
genuegend eigene Mittel, die sich auf etwa 30,000 R. Banko beliefen. Der weitere 
Verlauf der Geschichte dieser Kolonie weist keine von denjenigen der anderen Kolonien 
abweichenden Zuege auf.
Schulz Peter Kliewer.
Beisitzer: Andreas Nachtigal, 
Gerhard Fast.
Schullehrer Jakob Brauel.
25. April 1848.
Quelle: 
Odessaer Zeitung. 42. Jahrgang, 1904, Nr. 206
 
 
 
