Willi Vogt. Mennonitische Ahnenforschung



Gemeindebericht 1848, das Molotschnaer Mennonitengebiet

 

Gemeindebericht 1848, Mennonitenkolonien.

18. Rueckenau

Die Gruendung dieser Kolonie geschah im Jahr 1811 auf Bestimmung des damals in Jekaterinoslaw bestehenden Kontors unter der Leitung des hiesigen Gebietsamts. Sie liegt ziemlich in der Mitte des ganzen Mennonitenbezirks und wird in der Richtung von Ost nach West mehr auf der noerdlichen Seite von dem Steppenfluesschen Kuruguschan durchschnitten, in welchem an der Stelle, wo das Dorf gegruendet ist, das aus Nordost kommende Steppenfluesschen Boemschekrak (Begim-Tschokrak) muendet. Die Entfernung von der noerdlich gelegenen Stadt Orechow betraegt 54 und diejenige vom suedoestlich gelegenen Berdjansk 90 Werst.
Da die Hoefe auf einer flachen Erhoehung alle 20 nebeneinander laengs des Kuruguschan erbaut sind, hat man auch die Gaerten zweckmaessig in der oberen Niederung dieses Flusses anlegen koennen, welcher dieselben mit Ausnahme von zweien in ungleicher Entfernung von den Hoefen durchschneidet und im Fruehling bewaessert. Die schwarze Dammerde eignet sich zum Anbau aller Gemuesearten und der Obstbaeume ganz vorzueglich, was die im ueppigsten Wachstum stehenden Gaerten voll und ganz bestaetigen. Oberhalb des Dorfes, wo die Bodenerhebung ebenso gleichfoermig bleibt, ist die 10 Dessj. grosse, in gleicher Laenge mit dem Dorf angelegte Waldplantage, welche in den wenigen Jahren ihres Bestehens prachtvoll herangediehen ist und das Dorf vor den Suedostwinden und Schneestuermen schuetzt. Die Kolonie gewaehrt mit ihren schoenen Anlagen namentlich von der suedlichen und noerdlichen Anhoehe aus mit dem 1844 neuerbauten Schulhaus einen schoenen und erhebenden Anblick. Wo vor 37 Jahren sich nur einige Chutorhuetten befanden und wo eine Anzahl armer Familien durch die Gnadenunterstuetzung des verewigten Kaisers Alexander I. in einer kuemmerlichen Zeit sich kuemmerlich anbauten, steht jetzt trotz mancher, das Emporkommen hindernder Ereignisse, eine stolze Ansiedlung, die von dem Fleiss und der Wohlhabenheit ihrer Bewohner zeugt. Der schwarze Erdboden eignet sich vorzueglich zum Ackerbau, und nur die an der noerdlichen Seite des Kuruguschan gelegene Steppe unterhalb der Boemschekrak hat eine vorwiegend roten, lehmartigen mit Muscheln vermischten, leichten Boden, dem unter den guenstigsten Umstaenden hoechstens eine Mittelernte abzugewinnen ist. In den Niederungen der beiden Fluesse waechst reichlich gutes Heu. Etwa eine halbe Werst unterhalb des Dorfes wird das Wasser der Kuruguschan in solchem Masse aufgehalten, dass es meist den Sommer ueber zur Viehtraenke ausreicht. In diesem Wasser befinden sich Blutegel.
Die Kolonie ist nach einem Dorfe in Preussen Rueckenau genannt worden.
Die erste Niederlassung bestand aus 11 Familien, wovon 8 anno 1810 aus dem Elbingschen Kreise ohne Fuehrer eingewandert sind. Eine Familie, Daniel Schmidt, ist 1809 um der Militaerpflicht zu entgehen, aus dem damaligen franzoesischen Department Zweibruecken ausgezogen, hat diesseits des Rheins gewintert und hat 1810 vom damaligen russischen Konsul zu Frankfurt am Main, Herrn Betmann, die Reiseerlaubnis nach der Molotschna erhalten. Eine Witwe mit zwei erwachsenen Soehnen ist auch in der dortigen Gegend nahe bei der Stadt Pirmasens wohnhaft gewesen; von den Soehnen hatte der eine dort und der andere hier gleich nach der Ankunft sich verheiratet. Ihr Familienname ist Tracksei. Schliesslich haben sich noch 9 aus Preussen eingewanderte Familien zu verschiedenen Zeiten hier beigesiedelt, so dass 1819 das Dorf wie gegenwaertig aus 20 Wirten bestand. Die ersten Ansiedler hatten im ersten Winter ihre Quartiere in den aelteren Mennonitenkolonien an der Molotschna. Da am Ansiedlungsplatze zur Aufnahme der Ansiedler kein Obdach vorhanden war, so bauten sie sich Erdhuetten. Auf der noerdlichen Seite des Kuruguschan hatten Gross-Tokmaker Kronsbauern einen Chutor mit zahlreicher Bevoelkerung und bedeutenden Viehherden, welche fuer die junge deutsche Ansiedlung verhaengnisvoll werden sollte. Im ersten Jahre wurde wenig gepfluegt und nur das fuer das wenige Vieh noetige Heu geerntet, und es ging alles ruhig ab. Im Fruehjahr 1812 jedoch verhinderten die aus Tokmak hierher gezogenen Bewohner das Pfluegen, in dem sie den Ansiedlern die Pfluege wegnahmen und erst im Herbst zurueckgaben. Beim Grasmaehen ging's nicht besser. Das Aufsetzen der Dachsparren auf den in den folgenden Jahren gebauten Haeusern wurde ebenfalls gewaltsam gehindert. Dieses traurige Verhaeltnis dauerte 4 Jahre lang, waehrend welcher Zeit die Russen saemtliche Laendereien bis dicht an die deutschen Haeuser umpfluegten und benutzten. Die Ursache der spaeten Abstellung dieser misslichen Sache von Seiten der hoeheren Behoerde war der im Jahre 1812 ausgebrochene Krieg mit den Franzosen. Es war eine traurige Zeit. Das Brotgetreide wurde den Vergewaltigten aus den Magazinen der Molotschnaer Kolonien verabreicht. Durch diesen Umstand auf's aeusserste bedrueckt, baten sie um Entlassung vom Ansiedlungsort mit dem Versprechen, ferner keine Ansprueche auf Land zu machen. Aber Wirklicher Staatsrat Kontenius verweigerte dieses aus weiser Absicht gaenzlich und befahl dem Gebietsamt, die Ungluecklichen mit allem Noetigen zu versehen, aber nicht zuzulassen, dass sie sich entfernten. Sie blieben auch sonst ziemlich unangefochten, wenn sie nur nicht versuchten landwirtschaftlich taetig zu sein.
Endlich im Sommer 1814 wurde der Graf Dimmensohn vom Herzog von Richelieu in dieser Sache bevollmaechtigt. Er bewirkte, dass die Chutorbewohner nach und nach den Platz raeumten und die Zurueckgebliebenen ihre oeffentlichen Feindseligkeiten einstellten. Ein vorlaeufiger Plan wurde entworfen und im Fruehjahr 1815 vom Landmesser Kasanow im Beisein des Grafen Dimmensohn und dem Landrichter aus dem niederen Landgericht abgemessen und durch Furchen bezeichnet.
Die ersten acht Familien waren so arm, dass sie nicht das noetige Reisegeld nach Russland hatten, und bekamen von der Grenze an Nahrungsgelder von der Krone; ebenso die zwei Familien Schmidt und Tracksei. Zu gleichmaessiger Verteilung erhielten sie 4589 R. 96 K. Vorschussgelder. Die spaeter beigesiedelten 9 Familien hatten eigenes Vermoegen, aber auch nur zur aeussersten Notdurft; sie haben keine Nahrungsgelder und keinen Vorschuss erhalten. Durch die Bedrueckungen der ersten Jahre waren die Ansiedler wirtschaftlich so zurueckgekommen, dass sie sich nur langsam erholten und sich auch nur ueber einen sehr geringen Anteil an den Einnahmen aus der spaeter erbluehten Schafzucht zu erfreuen hatten. Erst mit dem Aufschwung der Landwirtschaft ist auch diese Kolonie zu ihrem jetzigen Wohlstand gelangt.

Schulz Jakob Harder.
Beisitzer Johann Loewen, Jakob Driedger.
Schullehrer Jakob Unger.


Quelle: Odessaer Zeitung. 42. Jahrgang, 1904, Nr. 190




Zuletzt geaendert am 1 Mai 2008