Im Jahre 1818 meldeten sich laut Zirkularvorschrift des
hiesigen Gebietsamtes 20 Familien zur Landannahme (1855: 20 Wirtschaften, 59 Anwohnerfamilien,
insgesamt 201 Maenner, 204 Frauen; 1857: 20 Wirtschaften, 124 Maenner auf 1300
Dessj. und 4 landlose Familien, 20 Maenner) wovon einige vor 3 Jahren, andere
vor 2, einige in demselben Jahr, zwei aber schon 1804 aus Preussen eingewandert
waren.
Im Jahr 1820 wurde fuer diese Familien der Ansiedlungsplan abgemessen
und auf Verfuegen des Oberschulzen Peter Toews die Baustellen abgepfluegt und
verlost, allwo sich denn auch die Ansiedler noch in demselben Fruehjahr teils
in Bretterbuden, teils in Erdhuetten niederliessen und nach Beendigung der Saatzeit
zum Aufbau der Wohnungen schritten. Zum Herbst 1821 wurden 22 Wohnhaeuser fuer
20 Wirte und 2 Handwerkerfamilien fertig. Gegenwaertig befinden sich 48 planmaessig
gebaute Haeuser in der Kolonie, wovon 4 aus gebrannten Ziegeln gebaut sind. Ausserdem
ist ein geraeumiges Schulhaus, eine Faerberei, die vortreffliche Arbeit liefert
und eine 1848 erbaute Ziegelei vorhanden.
Die Kolonie liegt am rechten Ufer
des Juschanlee-Flusses an der ersten groesseren Niederung desselben, zwischen
den Kolonien Lichtfelde und Prangenau. Sie besitzt 540 Dessj. Ackerland, 60 Dessj.
Heuschlag und 700 Dessj. Weideland, welches aber nicht zur Ernaehrung von 500
Stueck Vieh hinreichend ist, weshalb alljaehrlich noch Kronsweideland gepachtet
werden muss. Der Boden ist hart, hat wenig schwarze Erde und ruht auf einer Unterlage
von gelbem Ton. Die Wiesen liefern nur bei besonders guenstiger Witterung eine
Heuernte. Eine Ausnahme macht die Niederung, welche vermittelst eines Dammes alle
Fruehjahr bewaessert wird und einen reichlichen Heuertrag spendet. Das Ackerland
ist meistens eben, nur ein Steppenfluss durchschneidet ein Vietel desselben in
schraeger Richtung, welcher aber gewoehnlich trocken ist und nur Schnee und Regenwasser
auffaengt. Man erhaelt durch tuechtige Vorbereitung bei einigermassen guenstiger
Witterung befriedigende Getreideernten. Oft aber trifft es ein, wie es auch dieses
Jahr geschehen ist, dass bald nach der Saatzeit ein heftiger Ostwind aufsteigt,
der dann die durch Schwarzbrache gelockerte Ackerkrume samt der Saat forttreibt.
Des Winters wird dieser Wind den Gebaeuden gefaehrlich durch Aufhaeufen des Schnees
und beschaedigt die Baeume.
Urspruenglich wollten die Ansiedler dieser Kolonie
den in ihrer Heimat vorkommenden Dorfsnamen Schoenenberg geben, womit aber der
Oberschulz Toews nicht einverstanden war, weil dieser Name im Chortitzer Bezirk
vorkommt. Da schlug der Schulz Johann Enns den aus Preussen bekannten Namen Neukirch
vor, welcher auch einstimmig angenommen wurde.
Die 22 Familien dieser Kolonie
stammten aus den Gebieten Elbing (6 Familien), Marienburg, Marienwerder und Danzig.
Sie waren in kleinen Partien zu 3 und 4 Familien eingewandert.
Die ihnen zugewiesene
Steppe hatte Johann Kornies aus Ohrloff in Pacht und die Gebrueder Johann und
Jakob Klaassen aus Tiegerweide weideten ihr Vieh auf derselben.
Die unbemittelten
Einwanderer bekamen einen Kronsvorschuss von 7543 R. Banko; das eigene Vermoegen
belief sich auf etwa 4000 R. Banko.
Anfaenglich wurden den Ansiedlern oefters
die Zugpferde gestohlen, so dass in den ersten fuenf Jahren 18 Wirte zum groessten
Teil alle, zum Teil 2 bis 3 der besten Pferde einbuessten. Von den anderen ueber
den Molotschnaer Mennonitenbezirk gekommenen Plagen und Ungluecksfaellen ist auch
Neukirch nicht verschont geblieben.
Der erste Umstand zur Foerderung des Wohlstandes
ist die vom Wirklichen Staatsrat Kontenius eingefuehrte veredelte Zucht spanischer
Schafe.
Ein anderer Vorteil zur Verbesserung der Kolonie ist die haeufige uebergabe
der Wirtschaften gewesen. Viele arme, schwache, teils auch wenig sparsame und
umsichtige Familienvaeter uebergaben ihren Wirtschaftsanteil wohlhabenden, tuechtigen,
des Landes bereits kundigen, meist in Russland gross gewordenen Landwirten, welche
nach Kraeften vorwaerts strebten. Die von den Wirtschaften Abgetretenen bedangen
sich ein am Dorfe sich anschliessendes Plaetzchen, wo sie sich ein Haeuschen bauten
und fuer
sich und ihre Familien den Unterhalt mit geringerer Muehe verschafften.
Seit
dem Jahre 1830 stiegen die Weizenpreise von 4 oder 5 auf 14 bis 18 R. Banko pro
Tschetwert und etwas spaeter bluehte die Handelsstadt Berdjansk auf, welche 40
Werst naeher liegt, als der bisherige Absatzort Mariupol, wo uebrigens den Betruegereien
der auslaendischen Aufkaeufer von der Obrigkeit jetzt auch bald Schranken gesetzt
wurden. Dadurch bluehte der Ackerbau auf. Nachdem man frueher das Anpflanzen von
Gaerten fuer unnuetz gehalten und behauptet hatte, die Baeume wachsen nicht, wurden
durch die Taetigkeit des Landwirtschaftlichen Vereins in Ohrloff und seines am
13. Maerz 1848 verstorbenen unvergesslichen Vorsitzers Johann Kornies Obst-, Maulbeeren-
und Gehoelzpflanzungen gemacht und der Seidenbau, Flachsbau, Handwerk und Gewerbe
wesentlich gefoerdert, wovon die am 21. August 1845 auf dem Vorwerk Juschanlee
stattgefundene Industrieausstellung Zeugnis gab.
Im Jahr 1845 wurde das Schulwesen
verbessert; seitdem wird bei weitem zweckmaessiger und gleichfoermiger unterrichtet
als frueher.
Schulz Heinrich Siemens
Beisitzer Aron Warkentin, Kornelius
Jantzen
Verfasser Jakob Heidebrecht, Schullehrer.
Neukirch, den 16. April
1848.
Quelle: Odessaer Zeitung. 42. Jahrgang, 1904, Nr. 188