Die Kolonie liegt 35 Werst von Orechow, 100 Werst von
Berdjansk, am linken Ufer des Flusses Tokmak, 12 Werst oestlich vom Dorfe gleichen
Namens.
Gedrueckt durch den beschraenkten Grundbesitz und angezogen durch die
den Mennoniten gegebenen grossen Vorrechte kam im Jahre 1822 aus dem Marienwerderschen
Regierungsbezirk in Westpreussen eine Gesellschaft von 13 mennonitischen Familien
unter der Leitung ihres Lehrers Peter Franz; 9 von diesen, darunter auch ihr Anfuehrer,
verbanden sich mit 11 anderen aus derselben Provinz schon frueher zu verschiedenen
Zeiten eingewanderten Familien und legten im Jahr 1825 den Grund zu dieser Kolonie
(1855: 20 Wirtschaften, 30 Anwohnerfamilien, insgesamt 144 Maenner, 125 Frauen;
1857: 20 Wirtschaften, 122 Maenner, auf 1300 Desj. und 12 landlose Familien, 62
Maenner). Den Namen Liebenau gab ihr der damalige Gebietsvorsteher Gerhard Ens
aus dem Grunde, weil zu der Zeit, als er den Ansiedlern ihre Steppe anwies, dieselbe
eine liebliche Aue war. Liebenau soll also liebliche Au bedeuten, welchen Namen
es zur Zeit der Ansiedlung mit goesserem Rechte fuehrte, als jetzt, wo die Steppe
nur einen sehr duerftigen Graswuchs hervorbringt.
Der Boden ist hier zum groessten
Teil lehmig, mit einer Schicht Dammerde bedeckt, doch findet man besonders in
der Naehe des Tokmak auch Kiesboden. Hier gedeihen alle Getreidearten. Die Baeume
beduerfen zu ihrem Fortkommen sorgfaeltiger Pflege, gedeihen aber vorzueglich.
Die Brunnen haben eine Tiefe von 2 bis 2 1/2 Faden und liefern sehr gutes Wasser.
Was
den Ansiedlern in dieser Einoede die Ansiedlung sehr erleichterte, war der Umstand,
dass in der Naehe ihres Ansiedlungsplanes schon frueher mehrere Doerfer angelegt
waren, deren Bewohner den Unerfahrenen mit Rat und Tat an die Hand gingen. Dreizehn
unbemittelte Familien erhielten einen Kronsvorschuss von 10,052 R. Banko. Die
eigenen Mittel beliefen sich auf ungefaehr 18 bis 24 Tausend R. Banko.
Liebenau
gewaehrt eine schoene, ja man kann wohl sagen eine reizende Ansicht, wenn man,
von der Steppe kommend, in's Tal hinabsieht. Viel tragen die von einigen Wirten
laengs der Strasse gepflanzten weissen und italienichen Pappeln mit ihrem himmelan
strebenden Laubgezweige dazu bei, am meisten aber wird die Schoenheit dieser Kolonie
durch die am rechten Tokmakufer hart an Liebenau liegenden russischen Bauernhaeuser
hervorgehoben.
Bald hat nun Liebenau ein Vierteljahrhundert bestanden, und
diese Zeit hat bereits hinlaenglich gezeigt, dass trotz der Schoenheit und reizenden
Ansicht nie ein Eden daraus werden wird. Der Herr hat durch Heuschrecken, Misswachs
und Viehseuchen den Bewohnern von Liebenau anscheinlich gemacht, dass sie nicht
fuer ein irdisches Elysium, sondern fuer ein himmlisches Vaterland bestimmt sind.
Diese
Schicksale hat Liebenau mit den anderen Mennonitenkolonien des Bezirks gemein
gehabt und ist im Vergleich mit denselben, was das Fehlen der niedrig gelegenen
Heuwiesen anbelangt, sogar sehr im Nachteil; dafuer aber erfreut sich diese Kolonie
ihres gesunden Trinkwassers, ihrer im Tokmakfluss befindlichen Viehtraenken und
ihres vortrefflichen Baumwuchses, was die Muehe der Anpflanzung ungemein erleichtert.
Liebenau naehert sich in Verbindung mit seinen Nachbardoerfern immer mehr der
grossen Bestimmung, ein Muster fuer die umliegenden Voelker zu werden.
Schulz
Heinrich Unrau.
Beisitzer Schroeder, Hubert.
Schullehrer Isaak Fast.
Quelle:
Odessaer Zeitung. 42. Jahrgang, 1904, Nr. 215