Den Mennoniten im Koenigreiche Preussen war laut Allerhoechster
Deklaration von 1801 nicht erlaubt, ihre Laendereien zu erweitern, noch andere
ausser den schon vorhandenen kaeuflich an sich zu bringen, weil sie sich ihren
Glaubensgrundsaetzen nach, der Kantonpflichtigkeit nicht unterwerfen konnten.
Dadurch gerieten sie bei zunehmender Familienzahl in bedraengte Umstaende. Nun
waren schon frueher auf das Verlangen Ihrer Majestaet der Kaiserin Katharina Mennoniten
ins suedliche Russland eingewandert. Auf Grund dieses Verlangens und auf die den
im Chortitzer Bezirk im Jekaterinoslawschen Gouvernement angesiedelten Mennoniten
von Sr. Majestaet Kaiser Paul 1800 am 6. September Allerhoechst verliehenen Privilegien,
wanderten 1803 und 1804 eine bedeutende Anzahl Familien aus dem Koenigreich Preussen,
der Provinz Westpreussen und den Regierungsbezirken Marienwerder und Danzig in
das suedliche Russland, wo sie sich im taurischen Gouvernement niederliessen.
Eigentliche Anfuehrer hatten diese Einwanderer nicht, aber zwei aus ihrer Mitte,
Klaas und Wiens, spaeter Ansiedler in der Kolonie Altona, und David Hubert, Ansiedler
in der Kolonie Lindenau, hatten einigermassen das Ruder in der Hand.
Schon
auf der Reise, in der Grenze und Gouvernementsstadt Grodno, hatten diese Einwanderer
von der russischen hohen Krone einer besonderen Huld und Wohltat sich zu erfreuen,
indem einer jeden Familie 50 Rbl. Banko geschenkt wurden. Ausserdem bekamen sie
noch von dort an auf 40 Tage fuer eine jede Seele ueber 12 Jahren 20 Kop. und
unter 12 Jahren 10 Kop. Banko Zehrgeld, sowie nach ihrer Ankunft bis zur ersten
Ernte Nahrungsgelder, und zwar 8 Kop. Banko auf jede Seele.
Unter diesen Einwanderern
waren auch die 21 Familien, die die Kolonie Halbstadt gruendeten. Sie kamen im
Fruehjahr 1804, nachdem sie groesstenteils im Chortitzer Mennonitenbezirk gewintert
hatten, auf der ihnen vom Kriegsgouverneur Herzog von Richelieu und dem Vorsitzer
des Jekaterinoslavschen Kontors fuer auslaendische Ansiedler Herrn Kontenius zur
Besiedlung angewiesenen Steppe an, welche damals teils von den Kronsbauern des
10 Werst entfernt liegenden Kirchdorfes Grosstokmak und teils von umherziehenden
Nogaiern benutzt wurde.
Die Kolonie wurde gegruendet in der nicht gerade bedeutenden
Niederung am linken Ufer des Steppenflusses Molotschna, welcher 25 Werst ausserhalb
der Grenze des Bezirks auf einem bedeutenden Berghuegel entspringt und bis 2 Werst
vor dieser Kolonie, wo das Zufluesschen Schoenhull muendet, Tokmak und von da
an Molotschna heisst. Die Entfernung von der damaligen Kreisstadt Orechow ist
40, von der jetzigen Kreisstadt Berdjansk ungefaehr 120, von der Gouvernementsstadt
Simferopol ungefaehr 330 Werst.
Von Haeusern und Wohnungen jeder Art war diese
Steppe ganz frei. Der Boden besteht in der Niederung aus einer Mischung von Moorerde,
Lehm und Sand; die etwas hoeher liegende Steppe, ausser der oberen Schicht von
1 bis 1 1/2 Fuss tiefer schwarzer Erde, nur aus Lehm. Der Graswuchs auf den Heusteppen
war durchschnittlich kraeftig und naehrend; besonders aber eignete sich der Boden
bei guter Zubereitung und Behandlung mehr noch zum Ackerbau und trug in fruchtbaren
Jahren 10 bis 15faeltige Frucht. Zur Verschoenerung der baumlosen Steppe ist am
noerdlichen Ende des Dorfes dicht an der Molotschna auf den Wunsch Sr. Majestaet
Alexander I. bei dessen hochgeschaetztem Besuch in den hiesigen Kolonien im Jahr
1825 ein Wald von 10 1/2 Dess. angepflanzt, wozu von Sr. Exzellenz dem Staatsrat
Herrn Kontenius und dem hiesigen landwirtschaftlichen Verein von auswaerts Saemereien
bezogen wurden. Auch hat ein jeder Landwirt unter der Leitung des Vereins 1 Dess.
mit verschiedenen Obstbaeumen auf seiner Feuerstelle als Garten bepflanzt.
Den
Namen Halbstadt gab der damalige Oberschulz Klaas Wiens dieser Kolonie ohne besondere
Veranlassung auf den Wunsch der Ansiedler nach der Benennung eines Dorfes in Preussen,
in welchem einige derselben gewohnt hatten.
Die Haeuser wurden mehrenteils
schon im ersten Sommer von mit zubereitetem Lehm ausgefuelltem Fachwerk gebaut.
Zur Unterstuetzung bekam jeder Ansiedler von der hohen Krone das zu einem Wohnhause
erforderliche Bauholz und 125 Rbl. Banko als Vorschuss zum Ankauf von Vieh und
Ackergeraeten. Dieser Vorschuss sollte ohne Zinsen laut der Einwanderungsukase
nach den gnaedigst bewilligten zehn Freijahren in den zehn darauffolgenden Jahren
zurueckgezahlt werden. Ihre eigenen vom Auslande hergebrachten Mittel bestanden
hauptsaechlich nur in Pferden, Wagen und einigem Rindvieh. An baarem Gelde hatte
die Mehrzahl kaum das Noetige zur Reise; und diese duerftigen Umstaende erschwerten
die Ansiedlung sehr. Die Einnahme war eine Reihe von Jahren in jeder Hinsicht
aeusserst klein. Die Produkte des Feldes waren nicht abzusetzen, weil kein Handel
stattfand. Der Weizen wurde in Mariupol hoechstens zu 5 Rbl. Banko das Tschetwert
gekauft. Bei solchen Preisen sah der Landmann seine Arbeit nicht bezahlt und baute
Getreide nur zu Wirtschaftlichem Gebrauch an.
Bei dieser geringen Einnahme
konnte die Bewohner weder Moebel noch wirtschaftliche Geraete anschaffen, sondern
verfertigten solches zum notwendigsten Bedarf meistens selbst, wodurch kein Handwerk
und Gewerbe emporkommen konnte. Nach und nach gewaehrte der Verkauf von Butter
und Kaese, die bei uns Mennoniten gut zubereitet werden, eine ziemliche Einnahme,
die noch durch den zwar seltenen Verkauf von Pferden und Rindvieh etwas vergroessert
wurden.
Die Grundlage des Wohlstandes wurde die Schafzucht, welche wir der
unermuedlichen und vaeterlichen Fuersorge des Herrn Kontenius zu danken haben.
Die Preise der Wolle stiegen, und Veredelung und Verbesserung der Schafzucht war
nun das Hauptaugenmerk der Bewohner. In den Jahren 1835 und 1836 stieg das Pud
Wolle auf 45 R. Banko. So wurde die Schafzucht fuer eine Reihe von Jahren eine
Quelle reichlicher Einnahmen.
Ein anderes hoechst wichtiges Ereignis fuer diese
Gegend ist die Anlegung der Seestadt Berdjansk, wofuer wir uns der hohen Regierung
zu innigem Dank verpflichtet fuehlen. Seit einen Jahrzehnt blueht nun ein weit
verbreiteter Handel in dieser Stadt. Mit gutem Gewinn konnte nun der Landmann
die Produkte seines Landes dorthin absetzen. Das gab ihm neuen Mut und neues Leben.
Mit Lust und doppeltem Fleiss betrieb und verbesserte er nun den Ackerbau, wobei
ihn der landwirtschaftliche Verein unterstuetzte. Durch die ganz allgemein eingefuehrte
Schwarzbrache wurde der Acker bei Kraft erhalten. Auch durch die Verbesserung
der Pferde und Rindviehzucht wurde der Wohlstand einigermassen gehoben.
Dagegen
aber hat diese Kolonie und ihre Schwestern auch wieder Zeiten und Umstaende erlebt,
die dem Fortschritt des Wohlstandes ganz und gar entgegen waren. In den Jahren
1812, 1813 und 1821 fiel die Ernte so gering aus, dass die Bewohner sich und ihr
Vieh nur muehsam durchbrachten. 1833 war ein gaenzlicher Misswachs, es wurde weder
Getreide noch Futter fuer Vieh geerntet, und es entstand ein grosser Mangel. Aus
Mangel an Weide auf der Steppe, die beinahe schwarz war, und infolge der dazugekommenen
Viehseuche fiel schon im Spaetsommer der groesste Teil des Rindviehes und von
dem durchgewinterten Vieh raubte einen Teil das rauhe Fruehlingswetter. Brotgetreide
fuer die Duerftigen wurde mit von wohlhabenden Bewohnern geliehenen Geldern in
Polen angekauft. Das Pud Weizenmehl hat bis 5 R. Banko gegolten. 1834 wurde auch
nur wieder die Aussaat geerntet.
1823 und 1824 zerstoerten grosse Heuschreckenschwaerme
die an sich geringe und 1827 eine hoffnungsvolle Ernte.
1829 und 1833 raffte
die Viehseuche den Bewohnern durchschnittlich den groessten Teil des Viehbestandes
hinweg, waehrend 1839 ein Teil von diesem Verlust verschont blieb.
Im Winter
von 1824 auf 1825 litt die Gemeinde an einem fuerchterlichen Schneejagen, doch
nicht in dem Grade und so ununterbrochen anhaltend, wie in den Kolonien an dem
oestlichen Ende des Bezirks. Obgleich schon im Herbst der groesste Teil des Viehes
der Missernte wegen fuer sehr billige Preise hatte muessen verkauft werden, so
konnte man doch das uebrige des ungestuemen Wetters wegen nicht alles retten,
weil das aeusserst wenige Futter tief im Schnee begraben lag und das Stroh von
den Daechern nicht auslangte und auch zu schlecht war. Daher verlor die Gemeinde
fast all ihr Vieh.
Im Juni 1845 richtete ein starker Hagelregen, worunter Stuecke
3/4 Pfund wogen, auf den Feldern einigen Schaden an; aber Anfangs Juli zerschlug
ein zweiter Hagelregen die beinahe reifen Gersten- und Roggenfelder. Die Arbusenfelder,
die ebenfalls zerstoert waren, erholten sich wieder.
1821 starben viele Einwohner
an einem starken Nervenfieber.
1836 am 11. Januar 9.30 Uhr Abends war hier
ein starkes Erdbeben, welches aber keinen Schaden verursachte.
Als nuetzliche
Anlagen zaehlt; die Kolonie eine Bierbrauerei seit 1809, eine Brennerei mit einem
Dampfapparat,
3 Essigbrauereien, eine Wassermuehle seit 1810, 2 Faerbereien,
eine Tuchfabrik, welche 1815 und 1816 gebaut wurde, 1839 abbrannte und 1842 wieder
schoener und vollkommener aufgebaut wurde. Zu dieser Fabrik sind von der hohen
Krone 3000 Dessj. Land, im hiesigen Bezirk gelegen, geschenkt worden. 1816 wurde
das Gebietsamt hierher versetzt. Auch befindet sich hier seit vielen Jahren eine
bedeutende Handlung von verschiedenen Schnittwaren, Holz, Eisen und vielen anderen
fuer die Bewohner notwendigen Sachen und Materialen.
1837 wurde die Kolonialgemeinde
Halbstadt im Schulzenamte von dem Vorsitzer des landwirtschaftlichen Vereins Johann
Cornies und dem Oberschulz Johann Regier um Erlaubnis gefragt, eine Handwerkerkolonie
aus 200 Handwerkern bestehend am oestlichen Ende von Halbstadt anzulegen, wozu
von der Gemeinde 50 Dessj. Land zum Anbau und fuer 200 Stueck Vieh Weide verlangt
wurde, was die Gemeinde laut Gemeindespruch unter der Bedingung bewilligte, wenn
sie als Entschaedigung an der suedoestlichen Grenze ihres Landes 600 Dess. vom
angrenzenden Kronslande zugemessen bekaeme, um 200 Stueck ihres Viehes dahin versetzen
und das Vieh der Handwerker mit ihrem uebrigen Vieh gemeinschaftlich weiden zu
koennen. Das wurde 1841 vom Fuersorgekomitee bestaetigt und 1842 die
Handwerkerkolonie
angelegt.
Mit Hohen Besuchen ist die Kolonie beehrt worden:
1818 von Sr.
Majestaet Kaiser Alexander I. Hoechst derselbe geruhte einige Augenblicke bei
der Tuchfabrik abzusteigen und sie zu besehen.
1837 von Sr. Kaiserlichen Hoheit
dem Thronfolger Alexander Nikolajewitsch.
1841 von Ihrer Kaiserlichen Hoheit
der Grossfuerstin Helena Pawlowna, welche bei dem hiesigen Bewohner und derzeitigen
Gebietsbeisitzer Johann Neufeld zu naechtigen geruhte.
1845 von Sr. Kaiserlichen
Hoheit dem Grossfuersten Konstantin Nikolajewitsch, welcher ebenfalls die Tuchfabrik
besichtigte.
1841 von Sr. Erlaucht dem Miniister der Reichsdomaenen General-Adjutanten
Grafen Kisselew.
1828 und 1835 von Sr. Erlaucht dem Kriegsgouverneur Grafen
Woronzow, welcher auch die Tuchfabrik besichtigte.
Schulz David Friesen.
Besitzer
Heinrich Nikkel, Johann Esau.
Schullehrer Andreas Voth.
Halbstadt im April
1848
Quelle: Odessaer Zeitung. 42. Jahrgang, 1904, Nr. 165