Um den furchtbaren Druck eines polnischen Edelmannes
zu entgehen, zogen im Jahre 1765 eine Menge Mennonitenfamilien aus der Gegend
von Schwez in Westpreussen, welches damals polnisch war, in eine moorige mit Weidengestraeuch
bewachsene Gegend am rechten Netzeufer in der jetzigen Provinz Brandenburg und
gruendeten, von Koenig Friedrich II. mit vortrefflichen Privilegien beschenkt
unter der Anleitung des Koenigl. Geheimrats Franz von Brinkenhof die beiden nach
ihm benannten Kolonien Franztal und Brinkenhofswalde und noch eine dritte, Neudessau
genannt. Anfangs zwar auf diesem Sumpfboden mit unbeschreiblichen Muehsalen kaempfend,
brachten es die Bewohner durch unermuedlichen Fleiss, den Gottes Segen kroente,
doch endlich zu einigem Wohlstand und einem recht behaglichen laendlichen Leben.
Sie wuerden ihre gewohnten und liebgewonnenen Verhaeltnisse wohl kaum verlassen
haben, wenn nicht der Koenig Friedrich Wilhelm II. aus Staatsruecksichten sich
genoetigt gesehen haette, so schwer es ihm auch nach seinen eigenen Worten wurde,
das Privilegium teilweise aufzuheben und ihnen Schutzgeld und die Beschraenkung
aufzuerlegen, dass sie keinen weiteren Grundbesitz erwerben koennten. Da richteten
sich die Augen der Gemeinde nach dem suedlichen Russland, wo an den Ufern der
Molotschna bereits Tausende ihrer Glaubensbrueder unter dem Szepter des Kaisers
Aufnahme, Schutz und Wohltaten unzaehliger Art gefunden hatten, und die Auswanderung
wurde beschlossen. In der Meinung, der Einwanderung stehe nichts entgegen, verkauften
im Jahre 1833 die meisten ihre Grundstuecke und schickten sich zur Reise an. Nicht
gering aber war der Schrecken, als der Kaiserliche russische Generalkonsul in
Danzig auf die an ihn gerichtete Anfrage den Bescheid erteilte, die Einwanderung
sei untersagt. Da wandten sich die geistlichen Vorsteher im Auftrage und Namen
der Gemeinde an Se. Majestaet den Kaiser mit der Bitte, fuer 40 Familien die Erlaubnis
zur Einwanderung Allergnaedigst erteilen zu wollen. Bald lag die Erlaubnis unter
den gesetzlichen Bedingungen in ihren Haenden.
In zwei Kolonnen, die eine
unter Anfuehrung des Kirchenaeltesten Wilhelm Lange, die andere von einem Kirchenlehrer
gefuehrt, setzte sich der Zug in Bewegung. Auch auf der Reise ward so viel als
moeglich nicht vergessen, dass eine christliche Gemeine reise. Taeglich wurde
vor der Abfahrt ein kurzer Morgensegen und des Sonntags eine Andachtsstunde gehalten.
Ohne besonderen Unfall kamen die Zuege im Anfang des Herbstes an der Molotschna
an, und jede Familie suchte ein passendes Unterkommen fuer den Winter. Dieses
kostete aber viel Geld, da die Nahrungsmittel des vorjaehrigen totalen Misswachses
wegen ungeheuer hoch im Preise standen. Herbst und Winter wurden aufgewandt, eine
Ansiedlungsstelle aufzufinden und festzustellen. Man entschloss sich endlich,
hoch oben auf der Steppe, da wo die ersten Spuren der Vertiefung des Steppflusses
Apanlee bemerkbar werden, wo sonst aber weder Gestraeuch noch Steinbrueche noch
sonst irgendeine Bodenmerkwuerdigkeit vorhanden ist, eine Kolonie von 40 Wirten
(1855: 40 Wirtschaften, 76 Anwohnerfamilien, insgesamt 310 Maenner, 271 Frauen;
1857: 40 Wirtschaften, 201 Maenner, auf 2660 Desj. und 26 landlose Familien, 81
Maenner.), 4 Handwerkern und 30 Anwohnerstellen zu gruenden.
Die Ansiedlung
geschah im Jahre 1835, mit Ausnahme einiger Baustellen, die 1836, und dreier Baustellen,
die erst im Jahre 1840 besiedelt wurden.
Die Kolonie bildet beinahe ein 2 Werst
langes Rechteck, dessen Laengsseiten nach Sueden und Norden und dessen Enden nach
Ost und West stehen. Von den zwei Haeuserreihen enthaelt jede 20 Stellen, welchen
gegenueber sich dann je 40 Anwohnerstellen befinden.
Zwischen den Wirtschaften
und Anwohnerstellen laeuft auf beiden Seiten eine breite, namentlich im Herbst
sehr befahrene Strasse hin, da der Getreidetransport nach der 70 Werst entfernten
Kreis- und Hafenstadt Berdjansk von vielen Kolonisten- und Mennonitendoerfern
hier durchgefuehrt wird.
Die ziemlich grossen Gaerten der Wirte wuerden zwischen
den beiden Reihen der Wirtschaftsstellen zusammenstossen, wenn sie nicht ein von
beiden Seiten mit Waldbaeumen eingefasster, vier Faden breiter Rasenfusspfad,
der "Kirchensteig" genannt, von einander trennte. Quer durch die Mitte
der Kolonie geht die sogenannte Mittelgasse, an deren Seiten, gerade gegen und
auf dem Kirchensteige oestlich die Schule steht und westlich die Kirche hinkommen
soll. Sie waere bereits in vollem Bau begriffen, wenn uns nicht manche ganz unerwartete
Hindernisse in den Weg gelegt worden waeren. Die Mittelgasse, die in gerader Linie
noerdlich nach dem Kirchhofe fuehrt, teilt in Verbindung mit dem Kirchensteige
die Kolonie in ganz gleiche Quartale. Hinter den Anwohnerstellen laeuft auf beiden
Langseiten die Waldplantage hin, und man darf wohl kuehn behaupten, dass
in Bezug auf die Baumanlagen nur sehr wenige Kolonien sich mit Gandenfeld werden
messen koennen. "Gandenfeld"! Dieser Name wurde der Siedlung von dem
Gemeindevorsteher aus folgenden Gruenden gegeben. "Feld" nannte man
die Kolonie, weil sie nicht in einem Tal, sondern hoch auf der Steppe, also auf
dem Felde liegt. Gnadenfeld nannte man sie einmal, weil man durch diese Benennung
ein Denkmal der Kaiserlichen Gnade stiften wollte, die trotz damals untersagter
Einwanderung dennoch der Gemeinde die erbetene Erlaubnis so bereitwillig erteilte,
und zum anderen, weil man von dem heissen Wunsche beseelt war, dieser neue Wohnort
moechte in jeder Beziehung fuer die Gemeinde ein Ort werden, an dem sie die Offenbarung
der goettlichen Gnade in reichem Mass erfaehrt. Die Behoerde genehmigte bereitwillig
die Benennung.
Die Kolonie hat sich bis dahin des goettlichen Segens zu erfreuen
gehabt, denn obgleich wir keine Unterstuetzung von der Krone empfingen und die
Mittel mancher Einwanderer nur gering waren, indem Vieh, Hausgeraet, Wirtschaftssachen
u.s.w. bei der Auswanderung fuer Spottpreise mussten dahingegeben werden, die
Reise aber und namentlich der erste Winter, sowie dann auch die Ansiedlung selbst
bedeutende Kosten verursachten, so muss man doch sagen, dass sie mit jedem Jahr
lieblicher aufblueht und schoener und wohlhabender sich gestaltet. Wir haben von
dem fruchtbaren und, wenn Gott den Segen nicht vorenthaelt, sehr ergiebigen Boden
meistens gute und einige reichliche Ernten gehabt, weshalb sich auch im Ganzen
der Wohlstand hebt und mehrt. Die Haeuser gewinnen ein immer freundlicheres Aussehen
und die Wirtschaftsgebaeude werden vollstaendiger und zweckmaessiger eingerichtet.
Viele Gaerten sind bereits trotz der jugendlichen Ansiedlung vollgepflanzt, und
selbst mehrere Wirtschaftsanteile in der Waldplantage, welche vor 2 Jahren begonnen
wurde, sind vollstaendig besetzt und mit Hecken umgeben.
Vor Seuchen, Feuersbruensten
und anderen besonderen uebeln hat uns Gottes Gnade bis hierher bewahrt, und so
hoffen wir denn auch fernerhin unter dem Schutz und Schirm unserer treuen Obrigkeit
ein ruhiges und stilles Leben zu fuehren in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.
Gnadenfeld,
den 30. April 1848.
Schulz Voth
Beisitzer: Jantzen, Goerz
Quelle:
Odessaer Zeitung. 42. Jahrgang, 1904, Nr. 228