Wenn man auf dem Postwege von Orechow 35 Werst zurueckgelegt
hat, so kommt man in einen russischen Marktflecken, Tokmak genannt, und suedoestlich
vom Postwege durch einen Fluss gleichen Namens. Schlaegt man von hier aus die
Strasse ein, die nach dem Tatarenstaedtchen Abatoschna fuehrt, und legt man auf
dieser Strasse ueber Huegel und Taeler durch ueppige Wiesen und Ackerfelder 12
Werst zurueck, so kommt man auf eine an der Nordwestseite flach ansteigende Hoehe,
die suedoestlich steil abfaellt und als Rand eines tiefen Tales sich nach beiden
Seitenrichtungen hinschlaengelt, und erblickt von hier aus, besonders wenn man
sich auf den links gelegenen alten Grabhuegel stellt, eine Menge Mennonitendoerfer.
Links von dem allernaechsten Dorf Fuerstenwerder, welches seine Benennung von
dem westpreussischen Dorfe Fuerstenwerder im Marienburger Kreise fuehrt, sieht
man die Kolonien Alexanderwohl, Gnadenheim, Friedensdorf, Landskrone, das in diesem
Jahr 1848 neu angesiedelte Dorf Hierschau und Waldheim; wieder rechts sieht man
die Kolonien Rueckenau, Tiegerweide, die beiden Gemeindeschaefereien, dann Rosenort,
Blumenort, Tiege und Ohrloff; wieder suedoestlich ueber eine kleine Erhoehung
die Kolonie Margenau, weiter oestlich Gnadenfeld, Konteniusfeld und Sparrau. Man
kann mit blossem Auge rechts 19 Werst und links 22 Werst weit die deutschen Mennonitenansiedlungen
mit ihren Gaerten und Ackerfeldern sehen. Kehrt man sich um nach Westen, so ist
es moeglich mit unbewaffneten Augen die Mennoniten-Handwerkerkolonie Neuhalbstadt
und die auf einem hohen Steppenrande liegende Kirche der Kolonie Molotschna (Prischib)
wahrzunehmen.
Von der Anhoehe herabsteigend gelangt man in das Tal, in welchem
sich laengs der Kolonie Fuerstenwerder der fast immer wasserleere Steppenfluss
Boheneschekrak (Begim-Tschokrak) schlaengelnd hinzieht dessen Muendung in die
Kurudujuschan mitten gegen die Kolonie Rueckenau ausgeht. Dieser Wasserlosigkeit
wegen ist es den Einwohnern von Fuerstenwerder moeglich gewesen, eine schoene
Weidenanpflanzung in dem leeren Flussbette anzulegen. Faehrt man weiter durch
den Fluss auf 130 Faden diesseits, so befindet man sich zwischen den Hausgaerten,
die aus verschiedenen Obstbaumarten bestehen und von der Dorfstrasse aus in der
Laenge 120 und in der Breite 45 Faden messen, wovon noch ein Raum von 60 Faden
Laenge und 10 bis 12 Faden Breite fuer Wohn- und Wirtschaftsgebaeude und zum Aufschobern
des Getreides und Heues abgeht. Weiter vorwaerts kommt man bei der Dorfschule
vorbei auf die gerade, 20 Faden breite, von gefaerbten Holzzaeunen eingefasste
Dorfstrasse, an deren beiden Seiten die Haeuser 10 Faden von der Gasse in gerader
Linie gebaut sind. Die Grenzen zwischen den Nachbarn bilden Maulbeerhecken und
ein Faden hinter dem Gassenzaun zieht sich eine Reihe wilder Holzbirnbaeume und
Pappeln hin. Begibt man sich quer ueber die Strasse, so kommt man durch die im
Jahre 1837 angelegte Holzanlage hindurch, in welcher jeder Wirt sein 100 Faden
langes und 23 1/2 Faden breites Quartal hat, wovon ein drittel mit Maulbeerbaeumen
und zwei drittel mit verschiedenen Waldbaeumen bepflanzt sind.
Von hier hat
man einen 3 Werst langen Weg, der zum Kirchdorfe Margenau zwischen schoenen Ackerfeldern
fuehrt, vor sich. Faehrt man aber von Fuerstenwerder rechts zum Ende hinaus, so
hat man einen 3 Werst langen Weg zwischen Ackerfeldern zu machen, von dessen beiden
Seiten ihm liebliche Baeume aus rotgefaerbten Holzumzaeunungen entgegen laecheln;
faehrt man links aus dem Dorfe hinaus, so hat man zur Linken eine fruchtbare,
durch weniges Ackerland unterbrochene Wiesenebene, und zur Rechten etwas hoeher
gelegenes Ackerland. Von dieser Kolonie bis ueber die Grenze nach Alexanderwohl
versprechen offene Setzgruben, dass man hier einmal in der Zukunft unter schattigen
Baeumen wird wandeln koennen.
Die Kolonie Fuerstenwerder wurde im Jahre 1821
angesiedelt von Einwanderern aus den preussischen Bezirken Danzig, Marienburg,
Stuhm und Marienwerder. Die Leute waren arm und hatten die weite Reise von 200
deutschen Meilen kuemmerlich genug im Vertrauen auf die Huld des Kaisers Alexander
zurueckgelegt.
Die Kolonie besteht aus 26 in den Jahren 1816 bis 1819 eingewanderten
und 4 bereits hier erwachsenen Familien (1855: 30 Wirtschaften, 49 Anwohnerfamilien,
insgesamt 208 Maenner, 202 Frauen; 1857: 30 Wirtschaften, 215 Maenner, auf 1950
Desj. und 4 landlose Familien, 25 Maenner) mit 175 maennlichen und 176 weiblichen
Seelen. Fuerstenwerder erhielt 19,919 R. Banko Kronsvorschuss, wovon noch jetzt
8221 R. Banko abzuzahlen sind. Von diesem Vorschuss erhielten ganz arme Familien
859 R., die etwas mehr bemittelten 280 R. Banko, waehrend die hier erwachsenen
sich aus eigenen Mitteln ansiedelten. Wiewohl man sich hier kuerzlich niederliess,
wuerde man jetzt kaum an ihren Wirtschaften die damals herrschende Armut erkennen,
trotz der vielen Misswachsjaehre und Landplagen, die den Fortschritt sehr gehindert
haben.
Wo vor 27 Jahren wueste leere Steppen waren, befindet sich jetzt eine
Kolonie mit 30 Wirten, 8 Wohnhaeusern von gebrannten Ziegeln, 22 von Luftziegeln,
an jedem Wohngebaeude ein Viehstall nebst Dreschdiele, 11 Querscheuern, 5 Anwohnergebaeude,
1 Dorfschule, 1 Vorratsmagazin mit 169 Tschetwert Wintergetreide und 28 Tschetwert
Sommergetreide, eine Anpflanzung von 9988 verschiedenen Obstbaeumen, 123 Gehoelz-
und 189 Maulbeerbaeumen. In der Gehoelzplantage befinden sich 20,759 verschiedene
Waldbaeume und 11,409 Maulbeerbaeume, in der Weidenpflanzung wachsen 3756 Weiden.
Der Viehbestand ist: an Pferden 254, Hornvieh 330 und Schafen 1825 Stueck. Ausser
allen wirtschaftlichen Einrichtungen ist 1 Dreschmaschine, 3 Haeckselmaschinen
und eine Windmuehle vorhanden.
Schulz Johann Reimer.
Beisitzer Johann Jakob
Goerzen.
Schullehrer Johann Siemens.
Quelle: Odessaer Zeitung.
42. Jahrgang, 1904, Nr. 197