Ein mennonitischer Schacher. Drei Briefe. 1908
Willi Vogt. Mennonitische Ahnenforschung
Geschrieben von Prediger P. M. F. Mit grosser wahrscheinligkeit
Peter Martin Friesen, (1849-1914) #274299,
Lehrer und Historiker, Autor
von "Alt-Evangelische Mennonitische Bruderschaft in Russland." 1911.
Ein mennonitischer Schacher
Drei Briefe
Hier geht es zu den Bemerkungen zu den Briefen.
1.
Prediger P. M. F.
An den Herrn Oberschulzen der . . . Wolost.
Geehrter
Herr! Einliegender Brief an Frau P. D., frueher Witwe V. in . . . , Mutter des
im ... er Gefaengnis verendeten A. V., bitte ich, derselben gefaelligst so eilig
als moeglich zu uebermitteln, wenn es sein kann, persoenlich oder durch deren
naechsten Prediger, oder aber in Gemeinschaft mit demselben. Die hier unten folgenden
Mitteilungen sind fuer die Gemeindevorsteher der Frau D. und des verendeten A.
V. bestimmt. Mir ist die Gemeindezugehoerigkeit nicht bekannt. Dabei bitte ich
Sie, Gegenwaertiges ebenfalls den Betreffenden einhaendigen zu wollen.
Ergebenst,
Prediger F.
23. Dezember 1909. - No. 290.
2.
Im Herrn geliebte Brueder! Am verflossenen
8. Dezember erhielt ich folgendes Papier:
An den mennonitischen Pastor Herrn
F.
M. W. D. Polizeimeister des .... Gradonatschalski, 8. Dezember 1908, No.
1771.
Dringend! Geheimabteilung. Ergebenste Bitte an Sie, am heutigen Datum
um 10 Uhr 30 Minuten abends in die Kanzlei der Polizei des . . . Gradonatschalski
zu einer Dienstleistung zu kommen, daher Sie das Noetige mit sich bringen moechten
zur Unterhaltung des heiligen Abendmahls. J.D. Polizeimeister. (Unterschrift.)
Ich verstand sogleich mit Entsetzen, dass es sich um einen zum Tode verurteilten
handele. Ich hatte in einer Zeitungsnotiz vor laengerer Zeit von einem Raubueberfall
gelesen, bei dem ein "Posselanin" mit einem Familiennamen, wie er unter
den Mennoniten vorkommt, den ich aber vergessen hatte, genannt war als Mitschuldiger.
Ein Schauder war damals ueber mich gekommen bei dem Namen, dann aber hatte ich
gehofft, es werde nicht ein Mennonit sein, der Name kommt auch bei anderen Deutschen
vor. Nach Durchlesen des kopierten Dokuments wusste ich, dass es dieser oder ein
aehnlicher Mennonite sein muesse, wenn nicht ein Irrtum vorliege, wie ich und
meine Allernaechsten leise hofften.
Es ist etwas sehr Schweres, wenn man mit
einer Handvoll Mennoniten in einer Stadt wohnt und bekannt ist als Vertreter dieser
Konfession; jedes berechtigte oder unberechtigte nachteilige Urteil brennt wie
eine persoenliche Kraenkung. Die Leute wissen so gut, was fuer erhabene Grundsaetze
und Ziele das Mennonitentum hat. Es menschelte und "mennonitelte" stark,
sehr stark bei mir in den etwa sieben Stunden (3.30 Uhr bekam ich das furchtbare
Dokument), bis ich Seite an Seite mit einem "Schacher" in den letzten
60 Minuten seines Lebens kniete.
Um elf Uhr sagte mir der Polizeimeister,
ich sei aufgefordert, mit einem Verbrecher die "Sterbeandacht" zu halten.
Der Betreffende fordere mich, nenne sich Mennonit und heisse V. - Ich sagte, ich
werde sehen, wie sich die Sache verhalte und handeln, wie ich es fuer recht halte:
"Ein Sterbender hat grosse Rechte!"
Bald fuhr ich in Begleitung
eines hoeheren Gerichtsbeamten und einiger Militaer- und Polizeichargen in zwei
Equipagen ins Gefaengnis. Da fuehrte mich der erwaehnte Gerichtsbeamte in ein
Gemach, wo die Verurteilten ihre letzten Stunden verbringen. Hier fand ich einen
jungen Mann (26 Jahre alt, wie er mir spaeter sagte) am Tische sitzend und schreibend;
ich sah, er schrieb russisch; er hatte in sehr ordentlicher Handschrift einen
grossen Bogen Schreibpapier ganz beschrieben, einen anderen angefangen, vor sich.
Wie er aufstand, klirrten die Ketten an seinen Fuessen. Es war ein unendliches
Jammerbild im elendesten Verbrecherkleid: blass, abgehaermt, aber mit dem Ausdruck
einer grossen Sanftmut und vollen Ergebung. Gesicht und Augen erinnerten mich
sogleich an Psalm 6, 7-8 und 32, 3-5. Er nannte auf meine Frage seinen Namen,
seine Mutter, deren Adresse, teilte mir seine Lage und sein Urteil mit: wegen
eines Raubueberfalls auf ein Magazin in der Stadt - in Gesellschaft mit zwei andern,
wobei sie zwei Menschen erschossen und einen verwundet hatten, war er (wie seine
Mitschuldiger) zum Tode verurteilt. Seine Zeit sei abgelaufen.
Seine Mitteilungen
machte er ruhig, sanftmuetig, ohne die geringste Aufregung oder Angst, ohne irgendwen
zu beschuldigen oder sich im geringsten zu entschuldigen. Nun bat ich die gegenwaertigen
Beamten und Waechter, uns allein zu lassen, man habe mich ja zur "Beichte"
gerufen. Alle zogen sich zurueck ins Nebenlokal, so dass sie uns sehen, aber bei
nicht lautem Sprechen nicht hoeren konnten.
Alle Menschen und "Mennoniten"
nahm mir nun der grosse Hirte und Bischof unserer Seelen gnaedig ab und fuellte
immer mehr und mehr mein armes Herz mit Ruhe, Festigkeit und immer wachsender
Suenderliebe und dann - Bruderliebe. Seite an Seite knieten wir nieder. Seine
Ketten klirrten. Wir beteten, lasen und verhandelten in dieser Stellung den 32.
und 51. Psalm, die Lieder: "Haupt voll Blut und Wunden" und "Jesus
nimmt die Suender an ", die " Schaechergeschichte'', und manches andere
von Gottes heiligem Zorn und gerechtem Gericht und grosser Liebe und Barmherzigkeit.
Durch beiderseitiges Erklaeren und Ermahnen, Erkennen und Bekennen der Suenden,
Troesten, Anpreisen, Zustimmen und Annehmen der Gnade wurde ich immer klarer ueberzeugt,
dass ein tiefes Heilswerk der Reue, Erkenntnis, Wiedergeburt und Heiligung hier
geschehen sei durch das Wort (seine vorhandene Erkenntnis) und den Heiligen Geist.
Ich sage "Heiligung"; dieser Missetaeter machte auf mich und hinterliess
bei mir den Eindruck einer engelhaften Sanftmut, einer unendlichen Demut, eines
voelligen Selbstgerichts und also geschehener Versoehnung mit Gott, so voll und
ganz, wie sein Standesgenosse Lukas 23, 4-43. Die erste Haelfte von Vers 41 war
ganz sein Bekenntnis, seine Stimmung. Aber auch das "Gewaschensein mit Ysop"
(Ps. 51) usw., war ihm klar und von ihm angenommen. Ich wurde ueberzeugt, mit
meinem "Bruder'' vor dem Gnadenthrone zu knien, und hatte nur zu bestaetigen
und zu bezeugen, wo der Heilige Geist schon sein heiligschreckliches und herrliches
Richt-, Straf- und Troesteramt geuebt hatte. "Der Geist der Wahrheit ...
der wird zeugen von mir, und ihr werdet auch zeugen." Joh. 15, 26-27. Nun
fragte ich, ob er das heilige Abendmahl mit mir zu unterhalten wuensche (nicht,
"ob ich es ihm geben solle"), wie er mich habe auffordern lassen. -
(Ich haette es natuerlich nicht auf "Aufforderung der Behoerde" tun
duerfen, wenn ich die Umstaende anders befunden haette: um Leitung in der Sache
hatte ich mit den Meinen ernstlich gebetet.) "O wie gern!" - wenn es
"an diesem Ort und unter diesen Umstaenden" sein koenne. Er erschien
sich selber und alles um ihn her erschien ihm so sehr unwuerdig. "Und dann
haben sie (die Waechter) hier alles so vollgeraucht, und der schmutzige Tisch!"
Diesen bedeckte ich mit einem weissen Decklein (ich hatte alles Notwendige fuer
alle Faelle mitgenommen), und so "verkuendigten wir des Herrn Tod" im
Angesicht eines Schaechertodes. Er war die ganze Zeit unserer Andacht auf den
Knien. Kindliches Beten seinerseits mit Bekennen, Erklaeren vollen Schuldbewusstseins,
voller Vergebung an alle. Nicht "Verfuehrern", nicht Richtern oder Gefaengnispersonal,
niemandem, ausser sich, ist in den dreiviertel Stunden oder etwas laenger von
seiner Seite auch nur ein Schatten von Vorwuerfen gemacht worden.
"Er
habe alles, soweit es ihm moeglich gewesen sei, gut gemacht durch Schreiben"
(das bestaetigte mir hernach ein Beamter mit Bewunderung seiner Reue und seines
Verhaltens bis zur letzten Stunde).
Ich wurde bewogen, ihm die Haende aufzulegen,
und flehte so noch einmal Gottes Vergebung und Gnade "fuer alles" -
bis zum seligen Auferstehen" - auf ihn herab, obwohl mehr Dank als Bitte
meine Seele bewegte. Diese Handlung schien ihn sehr zu erquicken und zu erfreuen,
und er warf sogar wie einen beglueckten Blick nach der Gruppe im Nebenzimmer,
um die er sich sonst nicht kuemmerte, wie er denn wiederholt waehrend unserer
Andacht sagte: "O wie freue ich mich jetzt!" (Auch gleich zu Anfang
unserer Begegnung sagte er mir, er habe "so viel geweint und gebetet, aber
sich auch schon manchmal so gefreut.")
Die Frage nach Taufweise und -wert,
nach Gemeindezugehoerigkeit (Ordnungsfragen hatten mich vorher wohl etwas beunruhigt)
kam mir in dieser Stunde nicht einmal in den Sinn. Hier war nur eine Gemeinde
und eine Gemeindeordnung in Beruecksichtigung zu nehmen, und zwar die nach "Matth.
18, 20." In dieser Gemeinde war ich wohl der Diener am Wort und leitende
Bischof, aber der mehr geistliche und geheiligte war A.V., das fuehlte und fuehle
ich sehr entschieden; so auch war er es, der am meisten "wuerdig ass von
dem Brot."
Nach Schlussgebet und Segen mussten wir uns "verabschieden."
Wir umarmten und kuessten uns. Ich sagte ihm noch einmal die letzten zwei Verse
von "O Haupt voll Blut und Wunden" ins Ohr, die er an- und aufnahm,
wie alle Gottesworte aus allen Liedern und Schriftstellen. Es war fuer ihn nun
nichts mehr zu tun. Es war alles geschehen, was geschehen konnte in seinem Fall.
(In Einzelheiten will ich nicht weiter eingehen.) Meine Frage ob er noch irgend
einen Wunsch habe: Bitten, Bestellungen - wies er fast ungeduldig zurueck, wie
auch eine aehnliche Frage des Prokurors. Derselbe und die anderen Anwesenden schienen
nach unserer Andacht sehr feierlich und freundlich gestimmt zu sein. Auch war
kein Anklammern etwa an mich, an meine Gegenwart: ihm war nur das Eine not und
gross! "Nur meiner Mutter schreiben", wiederholte er seine gleich anfaenglich
geaeusserte Bitte, dass ich bei ihm gewesen und "was hier geschehen sei."
Er war gestorben, ehe er starb, und hatte kein Interesse mehr fuer diese Welt;
er war ein "Davoneilender." Auch bis zum letzten Moment in diesem Dasein
hat er nichts als Sanftmut (er machte einen geradezu engelhaften Eindruck, den
ich bis heute empfinde) und unerschuetterliche Ruhe geaeussert, so wie einst sein
Kollege rechts von Jesu Kreuz.
Meine Seele aber erfuellte ein Meer von Liebe
und Freude! Herrliche Momente habe ich armer, suendiger Mensch geniessen duerfen
- durch Gottes Gnade - hohe, glueckselige Stunden in meinem armen Dienst am Wort;
solche Schauer und Stroeme aber, wie sie in und seit den Stunden meine Seele erfuellt
haben, hatte ich noch nicht erfahren: Stroeme der Liebe Gottes zu A. V., mir und
allen armen Suendern, die erloest sein wollen. Ich habe geschmeckt, was suesser
ist den Honig und Honigseim, ich bin satt geworden an den reichen Guetern des
Hauses unseres Gottes und habe mich gelabt am Strome des Lebens. Und so auch wurde
- meint nicht, ich wolle mich ruehmen: Er sei geruehmt! - so auch wurde mir ins
Herz gegossen eine solche Liebe zu den Suendern, dass ich etwas von meines Gott-Vaters
und meines Erloesers Liebesbeweise zu uns verstanden habe, wofuer ich nicht Worte
finde.
Und so kommt's immer wieder und wieder ueber mich; und es ist doch
heute, wo ich diesen Brief endlich (wegen meines Gesundheitszustandes dauert es
so lange) abschliessen kann, der fuenfzehnte Tag, und ist die Prosa des Lebens
ganz in Herrschaft getreten, ich bin ruhig und kalt; aber wenn ich mich hier hineindenken
muss, dann stroemt dieses Element ueber mich. Ich musste in der Nacht zu meiner
Frau und Tochter reden von der Liebe Gottes zu uns und meiner Liebe zu Suendern,
als waere es etwas ganz Neues, Unbekanntes; und so empfangen es die Meinen. Die
Kostbarkeit und alle Herrlichkeit im All uebersteigende Schoenheit eines bussfertigen
Suenders hatte ich nie geahnt in solchem Masse. "So weit hat's Christi Blut
gebracht!" jubelte meine Seele (dazu fordert ja auch der "Vater",
der "gute Hirte" und das 'Weib", Luk. 15, auf). "Hier forscht
und betet an, ihr Seraphim!"
Und das natuerliche, menschliche Gefuehl,
Mitleid, Entsetzen, Abscheu vor dieser Art von Justiz? O, das kam spaeter, in
derselben Nacht auch, und nachdem ebenfalls auch widerholentlich in schrecklicher
Weise. Ich kann meinem Abscheu und meiner Empoerung wider so einen "Gerechtigkeitsbegriff"
und "Selbstschutz" der Bessersituierten und buergerlich "Gerechten"
nicht Wort geben! Und wer sind oft auch "buergerlich" die Richtenden
und Strafenden!?
Ich sah auf dem Rueckwege von einem Krankenbesuch ausserhalb
der Stadt vor ein paar Tagen den Ort, eine Schuttanfuhrstelle, auf der breiten
Landstrasse, wo die Graeber der so Verendeten, in Gestalt von unordentlichen Haufen
ueber den Gruben von verscharrtem Vieh sich befanden! Allmaehlich ebnet man den
Ort mit Steinschutt als Weg! Ich widmete dieser "Schaedelstaette" einige
Minuten der "Andacht" und redete zu meinem Gott und bat um "Ausgleich";
und der Ausgleich wird kommen "Gerechtigkeit ist seines Stuhles Feste!"
- "Ich will richten zwischen Schafen und Hirten und zwischen magern und fetten
Schafen!" Nach dem Tage, wo
Christi Kreuz auf Golgatha gestanden, toeten
die "Gerechten" die Ungerechten! Und wie viele Irrungen in solchen Faellen!
O, ihrer sind nicht wenige: immer wieder, auch in unsern unglueckseligen Tagen,
konstatieren die Gerichte, dass man einen voellig Unschuldigen gehenkt oder erschossen
hat. (Mit A. V. war es allerdings nicht so.) - Erst lassen wir Gutgestellten und
von Gott zu Huetern und Fuehrern Gesetzten so ein Menschenkind vorkommen, und
dann "richten" wir es. Wie viele Fuesstritte unserer mennonitischen
Pharisaeerfuesse moegen in Faellen, wie der Fall A. V., wohl durch Generationen
mitgeholfen haben, bis eine Familie, eine Person so tief drunten ist, wie wir
es gar vielfaeltig ansehen muessen in unserer Koerperschaft.
Wie viele Suenden
durch Generationen von seiten der Eltern, Nachbarn und Ortsvorsteher, Schullehrer
und geistlichen Vorsteher, - besonders von uns, den geistlichen Waechtern auf
dem Stuecklein Zions-mauer, das russlaendisches Mennonitentum heisst! "Siehe,
ich will an die Hirten!" (Hes. 34.)
In der Nacht durchschauerte mich
auch diese Erwaegung in Verbindung mit mancher Schulderinnerung aus meinem Berufsleben,
(und so auch auf jenem schrecklichen Graeberfelde): "A. V. und Genossen!
Wenn ihr im Gericht vor dem Richterstuhl Christi uns "Gerechten" und
euren Richtern werdet gegenueberstehen, seid uns nachsichtige Richter! Widersprecht
nicht unserer Aufnahme in die ewigen Huetten!"
Sehr schwer, wie ich schon
im Anfang sagte, fuehle ich auch die Scham und Schmach: "ein Mennonit!"
Ich sagte - ob es vom Heiligen Geist diktiert war, behaupte ich nicht - vor den
Ohren der Beamten (ich meinte, das unserer Koerper schaft schuldig zu sein): "V.,
Sie sind der erste Mennonite in 120 Jahren in Russland, der diesen Weg geht, aber
Ihre Reue hat Gott angenommen." Er neigte dazu demuetig den Kopf.
- Und
er ist nicht der einzige Verbrecher von mennonitischem Blut!
- Waere hier
nicht eine Veranlassung zu einem gemeinsamem Fast-, Buess- und Bettag als A. V.s
Begraebnisfeier? (Ist in der Hauptkirche und den Filialen von V.s Kirchspiel geschehen.
- Nachtr. Anm. F.) Und sollte neben allen guten Missionen, fern und nah von unsern
Gemeinden, Kreisen und Personen betrieben, das Suchen und Retten der Verkommenen
in jeder Beziehung buergerlich und geistlich, nicht ein besonderer wichtiger Zweig
solcher "Missionen" werden, wie noch nie? Oder wollen wir uns nur empoeren
ueber solche uns angetane Schmach? Ich will an der Schmach A. V.s mittragen, neben
der seligen Freude ueber seine Errettung fuers ewige Leben und der geistigen Bruderliebe
zu ihm, die mir von Gott geschenkt worden ist.
Ich glaube bestimmt, viele
mir unendlich Teuren am Ort zu haben, wo die Seligen warten auf die herrliche
Vollendung, und ich hoffe durch Christi Blut mit meinen noch lebendigen Teuersten
dahinzugelangen: aber am engsten und innigsten umschlungen will ich mit A. V.
zum Throne des erwuergten Gotteslammes und des allmaechtigen Vaters mich nahen,
wenn ich erst werde duerfen, so eng blutsverwandt hat uns das Erbarmen in jener
Mitternacht gemacht. Ich hoffe, nicht viele unter unsern Volksgenossen wollen
sich in diesem Fall neben den gerechten Mann stellen, den Jesus so kraeftig geschildert
hat (Luk. 18. 10-12), und mit demselben mitbeten!
Nun noch einen schoenen,
troestenden Gedanken! Hat A. V. unehrenhaft gelebt, und war sein Ende buergerlich
unehrenhaft fuer uns Mennoniten, er ist gestorben - nach der Seite der Ewigkeitsfrage
- als ein Zeuge dessen, dass das Evangelium in seinem Kernpunkt unter uns richtig
gelehrt und gepredigt wird auf Schul-Katheder und Kirchen-Kanzel: er hatte kein
Buch im Gefaengnis, und doch hatte er aus dem "Wort" in seinem Gedaechtnis
waehrend der Gefangenschaft eine richtige Heilserkenntnis gewonnen (wie oben dargetan)
ueber die heilige, goettliche Gerechtigkeit, und war in Reue mit Christus gestorben,
und ueber die Suenderliebe Gottes, und war so im Glauben an dieselbe mit Christus
auferstanden.
Wir haben viele neue "Erkenntnisse", "Erfahrungen"
und Uebungen in 50 Jahren etwas als mennonitische Gesamtheit erworben und angenommen,
miteinander oder gegeneinander, als Gemeindengruppen oder Kreise: alles wird auf
seinen Wert geprueft werden im letzten Feuer (1. Kor. 3, 11-15), manches schon
hier und bald, positiv und negativ. Gott die Ehre fuer allen Fortschritt in Bildung,
Theologie, Lehren, Herzenserlebnissen und Betaetigungen des geistlichen Lebens!
Ich bin sehr fortschrittlich gesinnt. Aber lassen wir um Gottes willen keine Ueberkultur
der Theologie und kein Messer der Philosophie uns die Wurzel des Evangeliums beschaedigen:
"Joh. 3 16" und was dazu gehoert, so, wie wir heute in der glaubenden
Gesamtheit diesen Vers und seine Parallelen verstehen!
Jene Nacht hat mir
wieder und nochmals maechtig ueber theologische und philosophische Fragen und
Bangen hinausgeholfen, und - ich lache ihrer! Unterm . . .n lernt man am besten
die rechte Theologie verstehen, die, welche in "dieser Zeit" (und wenn,
wie in Luk. 23, 40-43 im Umfang von Minuten) den Baum des ewigen Lebens aufgeben
und eine Erstlingsfrucht der Heiligung bringen laesst (in Erkennen, Bekennen und
sanftem Erdulden des von Gott Verhaengten als teilweise Strafe fuer die Suende,
denn unbedingt muessen wir alle in irgend einer Form und irgend einem Mass die
Bitterkeit und Haesslichkeit der Suende erfahren, "Mit Christo sterben!")
und ihn hinueberrettet zur ewigen Auswirkung und herrlichen Vollendung im jenseitigen
"Paradies Gottes."
Arm sind wir, aber noch nicht verdorben und gestorben,
wenn wir die Wurzel noch haben. Sie kann aber nicht immerfort leben, wenn der
Baum oben zu lange verwuestet wird. Liebe Brueder! Ich schreibe diesen etwas lang
gewordenen Bericht und meine Gefuehle und Gedanken an euch und die Gemeinde (oder
Gemeinden), zu der Frau D. und A. V. gehoeren, resp. gehoerten, weil es euch zu
allernaechst (nach der Familie) angeht; dann aber auch fuer unsere ganze Volksgenossenschaft,
weil ich das Erzaehlte fuer uns alle ein sehr ernstes und schreckliches Memento
halte, das aufbewahrt werden soll in den Annalen unserer Geschichte. Gegen weitere
Mitteilung in unserer Mitte in irgend einer Form (genaue Kopie) habe ich nichts
einzuwenden - im Gegenteil.
Unbekannt, aber mich eins wissend mit euch in
all eurem redlichen und heiligen Ringen und Ausstrecken nach Erfuellung des Willens
Gottes in Eurem Leben und Dienst, bin ich in unseres Herrn Jesu Christi Liebe
mit christlicher Hochachtung, Euer Bruder und Diener, P.F.
2.
"An Frau P. D., frueher Witwe V., in . . . .1.
Werte Frau D.! Im Auftrage Ihres als eines durch Christi Blut gewaschenen
Suenders im Gefaengnis zu ... verendeten Sohnes A. V., schreibe ich Ihnen mit
schwerem Herzen - und doch getroestet - diese Zeilen.
Am 8. Dezember wurde
ich von der Behoerde ersucht, gegen Mitternacht ins Gefaengnis zu kommen, um "mit
einem Verbrecher, der sich Mennonit nenne und sich an mich wende, die Sterbeandacht
zu halten." Ich war natuerlich sehr erstaunt und erschrocken, folgte aber
selbstverstaendlich der Aufforderung. - Im Gefaengnis fand ich einen jungen Mann
in Verbrecherkleidung, mit Ketten an den Fuessen, blass, mager, ein Bild des Elends,
ein nasses Handtuch um den Kopf gewunden; er sass an einem Tisch und schrieb,
wie ich sah, russisch. Auf meine Fragen, erst russisch, dann deutsch, und zuletzt
plattdeutsch, um mich sicher zu ueberzeugen, erwies er sich, er sei A. V., 26
Jahre alt, Sohn der jetzigen Frau P. D. in ... .1, .... er Wollost. Er war verurteilt
wegen Raubmord in der Stadt .... in Gemeinschaft mit zwei andern, wobei sie zwei
Maenner totgeschossen und einen verwundet hatten. Diese Stunde sei seine letzte.
So furchtbar schrecklich dieses alles fuer mich anzusehen und anzuhoeren war,
so wundervoll und herrlich offenbarte sich hier die unendliche Liebe und Gnade
Gottes in Jesu Christo!
Ihr Sohn war sanft wie ein Lamm, demuetig, voellig
bussfertig, rechtfertigte sich mit keinem Wort, beschuldigte niemanden, beklagte
sich ueber gar nichts, jammerte nicht (obwohl er ganz im Vertrauen mit mir, ja
mir, fuer andere unhoerbar, ins Ohr sprechen durfte): er war so ruhig und ergeben
in sein Geschick, wie einer, der schon ueberwunden hat. Er erzaehlte mir, dass
er viel gebetet und geweint habe - man sah es seinen Augen an und seinem Gesicht,
dass er "muede war von Seufzen, dass er sein Bette die ganze Nacht geschwemmt
und sein Lager mit Traenen genetzt hatte, seine Gestalt war verfallen und alt
geworden, denn er war allenthalben geaengstet worden" (Ps. 6, 8). Aber er
habe sich auch schon oft "so sehr gefreut", sagte er, in dem Glauben,
dass Jesus Christ ihm vergeben habe. Ich fragte, ob wir miteinander beten wollen?
"O ja, wenn das in diesen Umstaenden sein koenne!"
Er meinte wohl,
er und dieser Ort seien zu schlecht fuer ein feierliches Gebet! Auf meine Bitte
entfernten sich die uns umgebenden Gerichtsherren und Waechter ins andere Zimmer
(damit er ohne Scheu sprechen koenne), sahen uns aber durch die offene Tuer. Wir
knieten Seite an Seite, Ohr an Ohr nieder. Mir war von Gott jede Spur von Widerwillen,
Scheu oder Richtersinn genommen und nur herzliche Liebe in mein Herz gegossen
worden vom ersten Augenblick, wie ich dieses "arme Kind" (so nannte
Gottes Geist ihn in meinem Herzen) erblickte und sprechen hoerte. Wir lasen auf
den Knien miteinander den 32. und 51. Psalm, das Lied Haupt voll Blut und Wunden"
"Jesus nimmt die Suender an" verhandelten die Geschichte "vom Schacher"
und was dazu gehoert vom Erkennen, Bereuen, Bekennen und (von Gottes Seite) Vergeben
der blutroten Suenden und vom Schneeweisswaschen durch Christi Blut. - Ich staunte
mehr und mehr, wie tief und klar er den Heilsweg verstand: das gerechte Gericht,
den heiligen Zorn Gottes und sein grosses Erbarmen, den kostbaren Preis des Todes
Christi zu unserer Erloesung. Der Heilige Geist hatte so gruendlich gewirkt, dass
ich bald erkannte, ich habe es nicht nur mit einem Reuigen, sondern mit einem
Wiedergeborenen zu tun.
Er hatte wohl den Besuch eines Dieners des Wortes
deshalb so sehr gewuenscht, um eine Bestaetigung, um eine Moeglichkeit des muendlichen
Bekennens und der Gemeinschaft noch zum letztenmal auf Erden zu geniessen. Durch
die Behoerde hatte er mich ums Abendmahl bitten lassen. Nach dem ueber seinen
Herzenszustand Gesagten konnte ich mich nun freudig dazu entschliessen. Auf meine
Frage, ob er es wuensche, antwortete er: "O ja, so gern, wenn das hier sein
kann! Sie haben alles so vollgeraucht!" - und der schlechte, schmutzige Tisch
war ihm zuwider. - "Das soll uns nicht kuemmern", sagte ich. Auf meine
Frage, ob er niemanden richte, grolle, sagte er, er habe allen verziehen, auch
so viel es ihm nur moeglich gewesen, an alle geschrieben und alles, wie er konnte,
gut gemacht.
Seine Augen und sein blasses Gesicht erschienen mir jetzt besonders
ruehrend ergeben und freundlich. Ich bedeckte den Tisch, der ihm so schlecht erschien,
mit einem schneeweissen Tuch (ich hatte fuer alle Faelle alles mitgenommen). Nun
erklaerte ich noch einmal kurz, so wie es mir Gottes Geist eingab, was diese heilige
Handlung bedeute. Er verstand sehr gut. In einem kindlichen Gebet schuettete er
vor Gott noch einmal sein Herz aus. Der Herr gab es mir, dass ich ihm die Haende
aufs Haupt legen solle. Und so flehte ich noch einmal Gottes Vergebung, Beistand
und Gnade "bis zum Erwachen im ewigen Leben und bis zu einer seligen Auferstehung''
und den Segen auf ihn herab, was ihn sehr zu erquicken und zu begluecken schien.
Einige Male sagte er: "O wie freue ich mich!" Er blieb waehrend der
ganzen Verhandlung auf den Knien. Wir schloessen die heilige Handlung mit dem
apostolischen Segen und den Worten des 103. Psalms, Vers 1 und 2.
Nun kam
unser Abschied! Ich fragte ihn, ob er nicht sonst noch Wuensche habe. Es war alles
geschehen, was fuer ihn geschehen konnte. Nein, sagte er, nur seiner Mutter schreiben,
wie er gleich zu Anfang gebeten, dass ich bei ihm gewesen und "was hier geschehen
sei." So antwortete er auch dem gegenwaertigen hoechsten Beamten, der nun
wieder mit den andern eintrat und ihn dasselbe fragte, und zwar sehr freundlich.
Er habe alles geschrieben: damit zeigte er auf seine beschriebenen Bogen. - Hernach
sagte mir ein Beamter, er habe an sehr viele geschrieben. Die Beamten und Diener
waren wie unter einem heiligen Eindruck.
A. V. schien Eile zu haben. "Es
ist genug!" - "Endlich!" drueckte sein ganzes Wesen aus. Auch war
es, als ob er mich draengte. Wir umarmten und kuessten uns kraeftig und innig.
Ich sagte ihm noch einmal die letzten zwei Verse von "O Haupt voll Blut und
Wunden" ins Ohr, ihn in meinen Armen haltend: "Wenn ich einmal soll
scheiden" - bis "wer so stirbt, der stirbt wohl." Er nickte dazu
zuversichtlich und kraeftig.
Nach nicht vielen Minuten war A. V. nicht mehr
unter den Lebenden. Nicht die geringste Spur von Todesfurcht hat er gezeigt. Er
ist gestorben wie ein reingewaschener Schacher, unerschuetterlich sanft wie ein
Lamm und stark wie ein Held ging er durchs schwarze Tor ins lichte Vaterhaus,
durchs kalte Todeswasser ans heimatlich sonnige Ufer.
Zwanzig Minuten nach
Mitternacht vom 8. auf den 9. Dezember 1908 war A. V.s Geist da, wo er seiner
ewigen Vollendung und seligen Auferstehung entgegengeht mit allen denen, die sich
waschen liessen "durch Chriti Blut ganz rein!" - mit dem Moerder am
Kreuz und allen bussfertigen Schachern.
Sehr treue Frau D. P.! Ich kenne Sie
nicht. Ich weiss nicht, wie Sie zu Ihrem Heiland stehen; aber ich kann Ihnen sagen:
ich bin versichert, wenn Sie in Christi Blut Vergebung der Suenden haben oder
nehmen (wo noch nicht), so werden Sie Ihren Sohn einst finden im weissen Kleid
vor dem Thron des Lammes. - "O Gott, ich bitt' durch Christi Blut, mach's
nur mit meinem Ende gut!" - Ich will nicht versuchen Sie zu troesten; das
kann Gott allein durch sein Wort und seinen Geist. Ich, meine Frau und Tochter
und noch ein paar christliche Personen im engen Kreise hier haben Ihren Schmerz
geteilt und teilen ihn. In der Nacht, nach allem, kam ueber mich zuerst ein grosses
unendliches Gefuehl der Liebe: Stroeme von Gottes Vaterliebe und Christi Hirtenliebe
und von des Heiligen Geistes Troestungen fuer mich und alle reuigen Suender und
speziell fuer A. V., den ich immer wieder "mein Sohn! mein lieber armer Sohn;
mein Bruder durch Christi Blut"; nennen musste - durch wogten, wie noch nie
in meinem Leben, meine begnadigte Suenderseele und mein suendiges Herz. Ich musste
singen, es kam wie eine Gewalt ueber mich (ich singe sonst wohl fast nie fuer
mich), und ich fuehlte genau, als saenge ich fuer und mit A. V.! Leise, leise
musste ich singen: "Es ist ein Born, draus heiliges Blut fuer arme Suender"
usw. "Der Schacher fand den Wunder-quell" - "Es quillt fuer mich
dies teure Blut" usw. (Frohe Botschaft Nr. 10). Ich konnte nur danken, nur
den Vater und den Sohn und den Heiligen Geist loben und preisen fuer mich und
A. V.
Ich sah in meinem Geiste so klar, wie der Vater den heimgekommenen Sohn
umarmte, ich sah das Schaf auf des Hirten Achsel, mir wars so deutlich, wie die
ewigen Hallen erbeben von Jubelsang, wenn der Hirte so ein Schaf heimbringt. Hernach
aber kam ein furchtbares Weinen ueber mich (ich weine selten), dann auch ueber
meine Frau und Tochter. Und das hat sich oft wiederholt bis heute.
Ich war
aus der Krankenstube ins Gefaengnis gefahren und bin nicht gesuender geworden
durch diesen Vorgang; ich konnte daher den Brief an Sie erste heute, den 23. Dezember,
fertig bringen. Auch die Schuld und Schmach fuehle ich zu Zeiten furchtbar stark
und bitter mit! Unsere Schulden haben wir noch Zeit hier zu richten, und nur wer
sich hier richtet, kommt nicht ins Gericht zur Verdammnis!
Meine Frau, Tochter
und ich gruessen Sie innig, obwohl ganz unbekannt, in der Liebe Jesu mit dem Gebet
um ein Zusammentreffen im ewigen Leben! Seien Sie Gott befohlen!
Mit christlicher
Hochachtung,
P. F., Prediger .... den 11. Dezember 1908.
Zuletzt geaendert am 11 Juni 2008.