Brief von David und Katharina Klassen, Chutor am Tock, Neu Samara, Susanne Johann Janzen (geb. Siemens) und Anna Kornelius Siemens (geb. Klassen), Nikolaewka, Ignatjewo Kolonie in der "Mennonitische Rundschau", vom 5. Oktober 1921, Seiten 13, 14, 16

 

Abgeschrieben von Lydia Friesen (geb. Esau) (Email), alle ihre .

 

Kopie der Zeitung "Mennonitische Rundschau" vom 5. Oktober 1921, Seiten 13, 14, 16. (gotisch) von Lydia Friesen (geb. Esau).

 

 

Ein Brief von Geschwister David D. Klassen, Gouv. Samara, Rußland an ihre Geschwister Jakob A. Schellenberg, Altona, Man., der mir für die Rundschau zugesandt wurde. Der Schwerstern Klassen und Schellenbergs Mutter und meine liebe Mutter sind leibliche Schwestern. Der Brief bringt auch etwas über meine Geschwister Jakob K. Huebert. Mit Brudergruß: Hermann H. Neufeld.
den 15. Sept. 1921.

Chutor am Tock, den 1. Juli 1921.
Liebe Geschwister Jakob und Anna Schellenberg.
Friede zum Gruß! Liebe Geschwister, Euren uns sehr werten Brief haben wir vorgestern erhalten und wollen auch sofort zurückberichten. Anton Schellenberg hatte Euren Brief vorgestern selbst hergebracht, ich war nicht zu Hause, war auf dem Felde beim Gras mähen. Meine liebe Frau hatte sofort mit Schellenberg verabredet, daß wir beide schreiben wollten, vielleicht erreicht Euch dann einer von beiden. Möchte der liebe Herr und Heiland diesen Brief schnell und sicher in Eure Hände führen, ist unser Wunsch. Ja wir sind in eine Zeit gekommen, die nicht zu beschreiben ist. Es geschehen so viel schreckliche Dinge, daß sich alles in uns sträubt, sie zu nennen, viel weniger noch zu beschreiben. Von unserem elterlichen Hause und von den lieben werde einen Teil aus unserer Schwester Suses Brief wiedergeben. -

Nikolaewka (Ignatjewer Kolonie, wo meine lieben Eltern noch wohnen. H. H. N.), den 11. April A. St. 1920.
Liebe Geschwister Klassen! Weil es jetzt Gelegenheit gibt, will ich versuchen, von uns, die wir noch leben, ein Lebenszeichen Euch zu senden. Wir wissen ja nicht, ob ihr noch alle lebt, aber ich will doch schreiben. Was hier bei uns in den letzten Jahren passiert ist, wird Euch wohl erschrecken. Unser Schwager Jakob Braun starb Ende September 1918 an der spanischen Grippe. Sie hinterblieb mit sechs Kindern, das siebente folgte nach dem Tode des Vaters. Der kleine Hans starb aber noch im Frühjahr 1919, die liebe Schwester hat jetzt 3 Mädchen und drei Söhne. Sie wohnt noch in Petrowka. Dann  eine Woche nach jenem Begräbnis wurde unser Schwager Jakob Eitzen begraben. Er hatte lange sehr schwer krank gelegen, seine Frau, unsere Schwester Maria hinterblieb mit 4 Kindern. Sie wohnt noch bei ihrer Schwiegermama. Im Jahre 1919 wurde unser Dorf von einer Bande überfallen, den 26. Januar, es wurde sehr viel geraubt, ich kann es gar nicht beschreiben, wie furchtbar es war. Den 27. gegen Abend kamen bei uns wieder 3 sehr betrunkene Mann herein, schrien und suchten verschiedene Sachen, schlugen Papa noch ziemlich, dann führten sie ihn in die Küche, wo sie ihm eine Kugel durch den Kopf jagten. Papa war auf der Stelle tot. (Mein Onkel Anton Löwen, meiner Tantes, gewesene Witwe Siemens, zweite Mann, war ganz alt, wohl schon Greis zu nennen. H. H. N.) Dann um etliche Stunden verließen sie unser Dorf. Abraham Sawatzky (stammend aus Wiesenfeld) wurde auch erschossen. Es war schrecklich. - Warum der Herr solches zugelassen, ist uns allen noch sehr dunkel - Doch es war nicht genug für uns. Unser Bruder Johann (Siemens) war in der Wassiljewka Lehrer. Am 24. Februar 1919 wurden sie nachts von drei Mann geweckt mit der Aufforderung, er solle herauskommen. Er ging hinaus, und sie nahmen ihn mit. Am anderen Tage fand man ihn auf dem Felde erschossen - Warum uns der Herr den lieben einzigen Bruder auf solche Art genommen, verstehen wir nicht. Ich muß Euch nur Trauerkunden senden. Bruder Johann hinterließ seine Lena mit zwei Kindern Anni und Hänschen. Weil Papa tot, verkaufte Mama Haus und Hof und teilte an den Kindern ab. Mama hat sich jetzt einen kleineren Hof mit Haus gekauft. Ich wohne noch immer bei Mama mit meinen drei Kinderchen. ---

So weit aus Suses Brief. Suse ist ja auch Witwe. Ihr Mann Julius Janzen hatte sich im Sanitätdienst auf dem Zuge ganz überquält. Er hat lange im Lazarett gelegen und ist dann froh im Herrn heimgegangen. So, lieben Geschwister, hat es 5 Witwen in unserem Hause in kurzer Zeit gegeben. Wir fragten uns, warum muß der Herr so etwas Besonderes in unserem Hause tun. Leider haben wir uns die Frage nicht beantworten können. Aber der Herr, der alles in Seiner Hand hat, wird ja keinen Fehlgriff tun, das wissen wir ganz genau, und das soll uns zum Troste dienen. Peter Löwens (er ist Onkel Löwens Sohn, seine Frau Lena ist Tante Löwens Tochter aus der erste Ehe) wohnen auf Kramatorskaja, wo er als Müller dient. Sie haben drei Kinder, die zwei Kleinsten sind gestorben. Ihre Tochter Anna, ihr zweites Kind wurde nach dem Scharlachfieber im vorigen Jahre blind, doch jetzt kann sie auf einem Auge wieder etwas sehen.
Jetzt noch von uns etwas dazu, wir sind, dem Herrn sei Dank, alle am Leben. Wir haben 9 Kinder, ich und meine liebe Frau, sind unsere 11, sind alle zu Hause. Hier bei uns ist es bis jetzt noch nicht so schlimm gewesen, wie im Süden. Aber auch wir mußten etwas erfahren. Ich wurde festgenommen und ins Gefängnis geführt. Ein und halb Monat mußte ich dort schmachten. Aller Vorrat an Mehl wurde der Familie genommen, auch was wir im Gemüsegarten eingeerntet hatten, wurde meiner Familie genommen, Bohnen, Erbsen, Linsen. Nur die Kartoffeln hatten sie nicht weggenommen. Aber der Herr erhörte unsere und der Kinder Gottes Gebete, die da mit heißem Flehen empor gesandt wurden. Nach 1 1/2 Monaten wurde ich aus der Haft entlassen, und ich durfte zurück zu meinen Lieben. Meine liebe Frau hat mich nur einmal im Gefängnisse besuchen dürfen. Doch wir durften nur 15 Minuten durch ein Gitter und in Gegenwart der Wache miteinander sprechen.
Doch genug davon, der Herr hat bis dahin alles wohl gemacht. Ihm sei Ehre und ewiger Ruhm. Wie es noch weiter wird, wissen wir nicht. Es scheint hier immer schwerer zu werden. Und wir schauen mit bangem Herzen in die Zukunft. Was wird sie uns bringen? Wir wissen es nicht. Die Ernteaussichten sind so sehr schlecht, es scheint so, es wird kein Getreide geben. Und Vorrat ist keiner, es hungern schon viele Menschen. Auch viele von unseren Mennoniten haben schon bis einen Monat lang kein Brot gehabt. Es scheint noch so, daß wir können Hungers sterben. Wir haben ja solange uns noch immer satt essen können, aber es sind solche die schon lange Zeit ihren Kindern das Brot zuteilen mußten. Und dann keine Ernteaussichten weit und breit, beihahe in ganz Rußland. Der Herr kann ja Wunder tun, das wissen wir. Und Er sagt im 33 Psalm - Er siehet auf die, so Ihn fürchten, die auf seine Güte hoffen, daß Er ihre Seelen errette vom Tode und ernähre sie in der Teuerung." Auf Seine Güte wollen wir hoffen.
Nun werde ich Euch noch Mamas letzten Brief, den sie an uns geschrieben, niederschreiben. Es wird Euch, Ihr Liebe, sicher wichtig sein, Mamas letzten Brief zu lesen. Werde Euch sofort die Trauerkunde bringen, daß wir Nachricht erhielten durch Onkel Hermann Neufeld (mein lieber Vater - H. H. N.), daß Mama den 5. November 1920 gestorben sei. Weiter keiner Nachricht, nur das Suse sich mit einem Witwer Thiessen verheiratet hat.

Mamas Brief. - Liebe Kinder, will auch ein Paar Zeilen schreiben, wir wissen nicht, lebt Ihr noch oder nicht, denn wir bekommen von dort keine Nachricht. Was haben wir für eine Zeit? Es ist so viel schweres über uns gekommen, daß, wenn der Herr nicht hilft , wir es unmöglich tragen können. Liebe Kinder, mein Schmerz ist so groß, wer es nicht erfahren, kann es sich nicht denken und auch nicht mitfühlen. Das Wasser der Trübsal ist mir bis an die Seele gegangen. Wenn der liebe Heiland mich nicht gehalten hätte, dann wäre ich verzagt. Meine Gesundheit ist seit diesem allen gebrochen, ich kann nicht mehr viel schlafen. Der Herr möchte geben, daß, wenn wir uns hier nicht mehr sehen, wir uns dort bei unserem lieben Heiland alle wiedersehen, wo alle unsere Lieben sind. Seid alle herzlich gegrüßt mit Jes. 35, 10. Eure betrübte und für Euch betende Mutter.
Von den anderen Dingen, die da geschehen sind, wäre ja noch vieles zu schreiben, aber ich will nicht mehr davon schreiben. Es hat alles solchen Eindruck aus uns gemacht, daß wir uns hier garnicht mehr zu Hause fühlen. Wir möchten hier aus Rußland weg, und je eher, desto lieber. Unsere Delegaten sind ja gefahren. Haben aus verschiedenen Briefen von Amerika erfahren, daß sie dort alles besehen haben, aber was Genaues und was Sicheres wissen wir noch nicht. Die Zeit zu warten, wird uns lang, weil es hier auch immer schlimmer wird. Aber wenn die Zeit da wird sein, dann wird der Herr uns auch helfen. Und nämlich dahin, wo er uns hinhaben will. Und will Er uns von hier wegnehmen in die Ewigkeit, dann möchte er uns Freudigkeit schenken, Ihm entgegen zu gehen und dann bei Ihm zu  bleiben in alle Ewigkeit. -

Geliebte Geschwister, einen Gruß der Liebe zuvor. Da mein Mann schon geschrieben hat, so will ich auch noch schreiben. O wie erfreute es uns doch, als wir Euren Brief erhielten. Liebe Geschwister, Du fragst an, ob die liebe Mutter noch lebt. O die liebe Mama werden wir auf Erden nicht mehr sehen. Könnte ich nur erfahren, woran sie gestorben ist, aber es wird nur immer alles so kurz geschrieben. Wenn ich dann so schlechte Nachrichten höre vom Süden, dann bin ich doch froh, daß sie im Himmel ist, daß sie sich nicht mehr darf ängstigen und plagen. O wenn wir auch erst alle dort wären. Der Herr wolle uns Kraft schenken, alle bereit zu sein, daß wir einst alle vereint bei Ihm sein können, wo es kein Scheiden mehr gibt. Johann seine Frau soll sich wieder verheiratet haben. Mir ist das Herz so schwer, wenn ich an den lieben Bruder denke, es ist so schrecklich -
Wenn der Herr uns noch ein Wiedersehen schenkte, o wie würde so vieles zu erzählen sein. Ich habe mich so gefreut über Eure Kinder, nur auch Euer großer Schmerz mit dem Aron (Geschwister Schellenbergs zweite Sohn Aron stürzte mit seinem Auto und fand dabei den Tod. H. H. N.), wenn er dann nur im Himmel ist, das ist ja die Hauptsache. Seid ihr anderen Kinder alle bekehrt? Wenn nicht, dann laßt es nicht unbeachtet, der Herr läßt solches Unglück nicht von ungefähr geschehen -, Nehmt es zu Herzen, liebe Kinder. Wenn doch niemand von den Unseren dürfte verloren gehen. Jakob und Anna, Ihr könnt Euch meiner doch noch erinnern? Vergeßt Eure Tante Tin nur nicht.
Wenn man uns doch aus Rußland ließe, wir wollten dann unter den ersten sein. Dann könnten wir uns vielleicht noch einmal wiedersehen. Wir wissen noch nicht, wie wir hier diesen Winter sollen durchkommen, wenn wir müßten hier bleiben, aber der Herr wird ja wissen, Ihm wollen wir vertrauen. Wir wohnen mitten in der Hungersnot. Wir haben bis dahin noch immer satt zu essen gehabt, aber viele nicht. Unsere Kinder sind alle gesund und lustig, die wollen nur essen. Anna ist dreizehn Jahre alt, und dann immer zwei Jahre weiter David, Greta, Johann, Sarah, Gata, Lena. Lena ist ein Jahr alt. Wir wohnen hier bei Hueberts (mein lieber schwager Jakob K. Huebert und meine liebe älteste Schwester Lena, hatte zwei Kinder. Was werden die lieben Geschwister in der Hungergegend durchmachen müssen? Laut der Eltern Karte vom März l. Jahr hatten sie an die lieben Eltern im Dez. 1920 geschrieben, daß sie alles los seien und uns nachkommen wollten ins Ausland. Wann wird der Herr ihnen und meinen lieben Eltern und den anderen Geschwistern die Möglichkeit geben, uns zu folgen - ? Wann? - Wann? - H. H. N.) ihre Mühlen, aber sie haben ihnen alles weggenommen. Frau Hübert ist Hermann Neufelds Lena. Wir wohnten erst in Orenburg in Klubnikowo. Wir hatten da einen Teil an einer Mühle, jetzt haben wir ja auch nichts. Da war auch kein Nesta mehr zu erhalten, und dann sind wir hierher gezogen. Nun muß ich aufhören mit Klagen, es könnte sonst kein Ende finden. Ich kann Euch nicht viel Frohes berichten. Der Herr wolle diesen Brief führen, damit Ihr ihn doch erhalten könntet. Grüßet alle unsere Verwandten und Bekannten, es sind dort so viele. Onkel Neufeld schrieb im Frühling an Hüberts, daß Mama den 5. Nov. gestorben sei, sonst nichts. Es kommt nur selten ein Brief her. Die Schwestern werden wohl auch nach Mamas Tode geschrieben haben. Sie hat überwunden, wir wollen es auch.
Wenn es irgend möglich wäre, daß wir hier herauskommen könnten und nach Amerika kommen, denn hier haben wir wohl nur den Tod zu erwarten. Möchte der Herr uns doch den Weg ebnen, denn wir haben keine Aussicht durchzukommen. Geschwister Jakob Hüberts bestelle Euch sehr zu grüßen. Bitte sofort zu schreiben, wenn Ihr diesen Brief erhaltet. Seid noch vielmal gegrüßt von Euren
Geschwistern David und Kath. Klassen.

 

 

Bemerkungen von Lydia Friesen (Esau):

David David Klassen (31.12.1872, South Russia - 8.08.1922, Neu Samara?) (#349242)
Katharina Johann Siemens (8.08.1879, South Russia - 26.08.1944, Fernheim Colony, Paraguay) (#358177)

Wir wohnen hier bei Hueberts:

Jakob Kornelius Hübert (7.09.1875 - ?) (#98146)
Helena Hermann Neufeld (7.09.1888, Sergeyevka, Fuerstenland - 1955, Russland)

Mühle am Tock, bei Neu Samara Kolonie. Von Andreas Tissen.

Mit Brudergruß: Hermann H. Neufeld:

Hermann Hermann Neufeld (5.09.1890, Sergeyevka, Fuerstenland - 28.12.1959, Vancouver, British Columbia) (#98133)

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Schwester Suses Brief:

Susanna Johann Thiessen (geb. Siemens, verw. Julius Janzen) (22.04.1890 - ?) (#358183)

 

Mamas Brief:

Anna Kornelius Loewen (geb. Klassen, verw. Johann Siemens) (2.09.1852, Kronsweide, Chortitza - 5.11.1920) (#98181)

 

Bilder und Fotos Kronstadt (Nikolajewka), Ignatjewo Kolonie.

   
Zuletzt geändert am 3 Juli, 2019