Kopie der Zeitung "Mennonitische Rundschau" vom 13. September 1922, Seite 12-13. (gotisch) von Lydia Friesen (geb. Esau).
Donskoje, den 25. Januar 1922.
Sehr geehrter Herr Wall!
(Eingesandt von Witwe John Wall, Inman, Kansas.)
Durch verschiedene Umstände gezwungen und auch durch die Hilfskomitees aufgefordert, an die Verwandten und Freunde in Amerika zu schreiben, wende ich mich an Sie, da ich die Adresse meiner Verwandten nicht habe. Falls in Ihrer Nähe oder Umgegend meiner Mutter Bruder, Peter Wall, der aus Neuhorst, Chortitza, Südrußland vor etwa 30 Jahren nach Amerika zog, wohnt, bitte ich Sie, ihm diesen Brief zuzustellen. Sollte er nicht mehr leben, dann seinen Söhnen, von denen, soviel ich mich erinnere, der älteste Peter, der zweite Johann und der dritte David hieß. Ich glaube, da warwn noch Kinder, doch weiß ich die Namen derselben nicht. Mein Vater war Jakob Korneliussohn Janzen, stammte aus dem Taurischen, Molotschnaer Kolonien, aus Dorf Petershagen, er wohnte einige Jahre auf dem Pachtgut Millgorodsky, zog von da in der Nähe auf eigenes Land, nicht weit von der Station Sofijewka, Alexandrower Kreis, Gouv. Jekaterinoslaw, zog dann 1893 nach Samara, wo er sein Gut wegen Ueberschuldung verlor und in der Nähe der Samarischen Ansiedlung ein Stück Land pachtete, wo er 1903 den 6. Januar an Herzschlag starb. Seine erste Frau war eine Aganeta Warkentin, von deren Kindern nur ein Sohn lebt mit Namen Kornelius, er lebt mit Frau und Kind in dürftigen Verhältnissen. Seine zweite Frau, meine Mutter, war eine geb. Anna Wall, stammte aus Rosenthal, Chortitza. Nach Vaters Tod lebte die Mutter einige Jahre bei uns, zog 1917 zu meinem jüngeren Bruder Johann Janzen, der wohnt auf Memrik in der Kolonie Alexanderhof, wo sie vor zwei Jahren an der Grippe gestorben. Mein Bruder Peter Janzen wohnt hier in der Nähe, vollständig mittellos. Seine Familie besteht aus 9 Seelen, er mit seiner Frau und 7 Kinder. Der älteste ist 17 Jahre, die andern 15, 13, 11, 9, 5 und 3 Jahre alt. Wenn sich seiner nicht jemand annimmt, so kommt er mit Seinen nicht durch. Meine Schwester Anna und Maria haben sich mit Johann und Gustav Schelinsky verheiratet. Anna lebt im Sibirischen mit ihren Kindern. Ihr Mann ist auch als ein Opfer der letzten Zeit gefallen. Maria mit ihrem Manne lebt in Gnadenfeld, Taurien. Bruder Abraham lebt mit Frau irgendwo in Südrußland. ustav Schelinsky verheiratet. Anna lebt im Sibirischen mit ihren Kindern. Ihr Mann ist auch Die jungste Schwester Aganeta litt an Epilepsie und wurde nach der Anstalt Bethanien, Einlage, Chortitza, gebracht, ob sie noch lebt, weiß ich nicht. Ich habe für die Eltern Briefe nach Amerika adressieren müssen an Klassen, auch Epp. Die Vornamen sind mir entfallen. Frau Epp war Vaters Schwester, die ich leider nicht gekannt. Ich heiratete 1896 hier im Samarischen Jakob Thießen, er stammte aus Rosenort, Taurien. Wir lebten hier auf dem Gute, bis wir 1917 gezwungen wurden, es zu verlassen. Mein Mann reiste von hier nach Südrußland, wo wir ein Gut von seinem Vater hatten und wo er durch Mörderhand fiel. Vier Jahre lebe ich mit meinen Kindern, 3 Söhnen, Jakob, 24 Jahre (er ist verheiratet), mit Frau, Nikolai, 22, Peter, 18, und eine Tochter, Sara, 13 Jahre alt, hier im Dorfe Donskoje. Wir führen jetzt ein schweres Leben, da uns Vieh und Ackergerät genommen ist. Wir haben eine Kuh und ein Pferd. Dieses wird noch schwer durch den Winter zu bringen sein, infolge der Mißernte. Wer noch Mehl übrig hat, kann sich dafür Futter einhandeln, aber Mehl haben wir knapp. Wenn wir jetzt vom Hilfskomitee etwas bekommen, schlagen wir uns vielleicht notdürftig durch. An Säen ist garnicht zu denken, da wir keine Saat haben. Dann sehen auch wir all den Schrecknissen des Hungers und seinen Folgen entgegen, der hier unter den Einwohnern wütet. Die Feder sträubt sich, all das Ungeheure wiederzugeben, was da vorgeht. In den Russen- und Baschkirendörfern sterben täglich viele Menschen und das Begraben ist ihnen unmöglich, weil sie vom Hunger entkräftet sind. Dann kommt es vor, daß von den Leichen Gliedmaßen verschwinden, die die Hungrigen im Wahnsinn kochen und essen. Weiber, die von ihrem bischen Habe austragen, um es an Wohlhabendere zu verkaufen gegen Lebensmittel, werden getötet und gegessen. Ja, Mütter schlachten und essen ihre Kinder. Gott der Herr möchte uns und jedermann vor solchem Hunger bewahren!
Noch einmal bitte ich sehr, diesen Brief meinen Verwandten, wenn sie sich dort befinden, zuzusenden. Wenn sich die lieben Verwandten finden, bitten wir sie, uns doch etwas aus ihrem Leben und von ihren Familien zu berichten.
Ihnen allen dort, Brüdern und Schwestern im Herrn rufen wir ein "Vergelt´s Gott" zu.
Hochachtungsvoll: Sara Thießen
Unsere Adresse ist: Sara Thießen, Kol. Donskoje, Post Pleschanow, Gouv. Samara.
(Ein Brief mit demselben Inhalt wie obiger wurde an Jakob Janzen, Moundridge, Kansas gesandt und auch zur Veröffentlichung hierher gesandt, da Jakob Janzen, Moundridge sagt, daß er nicht der rechte Empfänger ist. Editor.)
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