Meine Lebensgeschichte. Von Hermann Jantzen in „Offene Türen“ 1926, S. 100 - 105 (Schluß)
Meine Lebensgeschichte. Von Hermann Jantzen in „Offene Türen“ 1926, S. 100 - 105 (Schluß)
(seine Erinnerungen haben die Grundlage des Buches „Im wildem Turkestan“ gebildet)
Ich erwähnte schon einmal, daß in unseren Kreiskommissariaten meistens Mohammedaner saßen. Das hat seinen Grund darin, daß die Bevölkerung von Turkestan zu 95% mohammedanisch ist. Nur 5% sind Europäer, die nach der Einnahme Turkestans durch das zaristische Rußland (1864) dorthin übergesiedelt waren. Seit dem Sturze der zaristischen Regierung regiert dort nun das Volk. Natürlich werden alle Entscheidungen nach Stimmenmehrheit getroffen. Als die Mohammedaner sahen, daß sie durch ihre große Mehrheit die Herren des Landes geworden waren, wachte bei ihnen sofort der lange Jahre unterdrückte islamistische Nationalismus auf. Sie zeigten sich als Feinde der Europäer. Als die Mohammedaner jedoch sahen, daß sie nicht ohne weiteres ihren Haß gegen Andersgläubige zeigen durften (denn Moskau hatte ein wachsames Auge) traten sie scharenweise in die regierende kommunistische Partei über, um auf diese Art mehr Einfluß zu haben. Sie brachten es auch fertig, daß die russischen und deutschen Kolonisten unentgeltlich ackern mußten. Niemand durfte sich widersetzen. Auch ich habe mit meinen letzten 3 Pferden 36 Morgen Land bearbeiten müssen. Wohl 2 Jahre kamen unsere Pferde dadurch fast nicht aus dem Geschirr und viele wertvolle Tiere wurden zu Tode gequält. Wo sollte man sich hinwenden? Moskau lag zu weit ab; hier am Platze aber handelten unsere nunmehrigen mohammedanischen Machthaber wie sie wollten. Wir Vertreter der Kolonisten wurden als ihre erbittertsten Feinde betrachtet. Allerwärts saßen in den sogenannten Tscheckas (Revolutionsgerichte) Mohammedaner an der Spitze, und was sie angaben, wurde ausgeführt. Der geringe Prozentsatz europäischer Vertreter (darunter auch ich) konnte für unsere Leute gar nichts oder höchstens nur sehr wenig ausrichten. Die Islamiten gingen in ihrem Haß soweit, daß sie sich von den europäischen Kommunisten trennten, wodurch 2 kommunistische Parteien entstanden. Die Mohammedaner hatten solche Gewalt, daß eines Tages Bevollmächtigte kamen und 158 der besten Rassepferde ohne jegliche Bezahlung mitnahmen. Solches tat man auch in den russischen Dörfern. Einige Zeit später erschien ein Kriegskommissar aus dem Stamme der Sarten mit seinen Soldaten in unseren Dörfern und rief die um uns wohnenden Nomaden auf, gegen uns zu klagen, was unseren mohammedanischen Nachbarn sehr angenehm war. Sie, die von jeher „mein“ und „dein“ verwechselten, benutzten mit Freuden diese Gelegenheit und brachten allerlei unberechtigte Anklagen gegen die Kolonisten vor. Der Kommissar saß dann sofort zu Gericht. Jedesmal war es dann so, daß die Mohammedaner ihre Prozesse gewannen. Manchem Kolonisten wurde dadurch die letzte Kuh aus dem Stalle geholt. Gegen solche Willkürmaßnahmen protestierte natürlich die europäische kommunistische Partei, aber sie konnte durch ihre Minderheit nichts anfangen. Wir Vertreter der europäischen Bevölkerung, die wir ebenfalls Protest erhoben, wurden einfach ins Gefängnis gesperrt. Auch mir widerfuhr das zweimal, ja ich wurde sogar zum Tode verurteilt. Die Leiter der europäischen kommunistischen Partei stellten eine schriftliche Garantie meiner politischen Zuverlässigkeit aus. Daraufhin wurde ich freigelassen. Erwähnen möchte ich, daß nicht alle mohammedanischen Machthaber meine Feinde waren. Überhaupt liebte mich das gewöhnliche Volk sehr, was meinen Feinden ein Dorn im Auge war. So nahmen diese bösen Elemente sich vor, mich, aber auch noch andere Vertreter der europäischen Bevölkerung, durch den Tod zu beseitigen. Unsere Machthaber setzten eine Kommission ein, deren Pflicht es war, alle diejenigen Bauern ins Gefängnis zu setzen, die gegen oben erwähnte Handlungen Einspruch erhoben. Viele russische und deutsche Bauern, darunter auch ich, wurden ins Gefängnis gebracht. Dann kam für uns die schlimmste Zeit. Je nach Belieben holte sich die Kommission einige der armen Gefangenen und schoß sie ohne weiteres nieder. Jedesmal, wenn das eiserne Gefängnistor rasselte, entstand unter uns die bange Frage: Wen wird nun das harte Los treffen – mich oder dich? Nachdem mehrere solcher Schreckenstage vorbei waren, kamen unsre deutschen Kolonisten übereins, für uns zu fasten und zu beten. Täglich schickten sie einen Boten zur Stadt, der nachforschen sollte, ob wir noch am Leben seien. Nachdem sie einmal 35 Stunden gefastet und gebetet hatten, kam ein Telegramm aus Moskau mit dem strengen Befehl, daß die Kommission sofort aufzulösen sei und der Vorsitzende derselben sich zur Verantwortung nach Moskau zu begeben habe. Diese Nachricht kam gerade zur rechten Zeit und wurde einem deutschen Gefangenen zur Rettung. Kurz vorher waren nämlich mehrere russische Bauern erschossen worden, wobei unser Freund, über den auch das Todesurteil gefällt war, zusehen mußte. Das hielten seine Nerven nicht aus, und er fiel in Ohnmacht. Da die Kommission es für unmännlich hielt, einen Ohnmächtigen zu erschießen, führten sie ihn wieder zurück ins Gefängnis. Gerade in dem Augenblick aber kam die Nachricht aus der russischen Hauptstadt. Bald erhielten wir die freudige Kunde, daß diese Mordkommission aufgelöst sei, jedoch die Absicht habe, wiederzukommen und die angefangene Arbeit zu vollenden. Diesmal erreichte es die europäische kommunistische Partei, daß die böse Absicht vereitelt wurde. Nach und nach ließ man die gefangenen Bauern wieder frei. Die meisten kehrten krank zurück; viele hatten eine Nervenzusammenbruch erlebt, etliche sogar den Verstand eingebüßt. Ich selbst war auch sehr der Ruhe bedürftig und zog mich von allen öffentlichen Angelegenheiten zurück. Auf meinen Wunsch wählten sich die Kolonisten ihren Vertreter aus den jüngeren Leuten.
So verging ein Jahr. Gar oft stieg in uns die Frage auf: Wie soll`s nur weiter gehen? Die Vorräte schmolzen allmählich zusammen, die Auslagen jedoch nahmen nicht ab. Es war die Absicht der Mohammedaner, den Europäern Turkestan zu verleiden. Uns auszuweisen wagte man wegen Moskau nicht. Täglich wurde es mir klarer, daß ich hier nicht länger bleiben könne. In meinem Kämmerlein flehte ich zum Herrn, Er möge mir ein Plätzchen geben, wo ich die letzten Tage meines Lebens ungestört mit Ihm verbringen könnte. Trotzdem ich mich um nichts mehr kümmern wollte, mußte ich doch täglich den Pflichten nach kommen, die die Kommissionen stellten. Als die Ernte da war, waren die Abgaben an Früchten derart hoch berechnet, daß ich fast all mein Inventar heimlich verkaufen mußte, um mit dem erhaltenen Geld für mich und meinen zweiten Sohn, der ein Krüppel ist, Frucht zu kaufen. Im Herbst 1922 bekam ich dann die Mitteilung aus Moskau, daß eine Einreiseerlaubnis nach Deutschland für mich da sei, des unsicheren Postverkehrs wegen aber dort behalten werden. Im Februar 1923 km eines Abends ein junger Tartar zu mir. Er war Vorsitzender der mohammedanischer kommunistischen Partei. Ich hatte ihn schon vor dem Kriege kennen gelernt; er war Oberlehrer an einer Fortbildungsschule gewesen. Wenn wir zusammenkamen, studierten wir die Bibel, und er war mir ein liebe Freund geworden. Als er nun am Abend jenes Tages heimlich kam, schien er aufgeregt zu sein. Als er sich gestärkt hatte, sagte er zu mir: „Vater und Mutter (so nannte er uns schon lange) ich bin gekommen euch zu warnen. Niemand darf davon erfahren. Es ist nämlich vorgestern in unserer Sitzung beschlossen worden, dich, o Vater, meuchlings zu ermorden da man deinen Einfluß, den du auf die Deutschen, Russen und Mohammedaner hast, fürchtet. Zweimal bist du dem Tode entronnen; der Hand des Meuchelmörders entgehst du nicht. Fliehet! Ja, fliehet beide, sonst wird Turkestan euer Grab!“ Er blieb dann bei uns über Nacht, und als er sich am anderen Morgen gestärkt hatte, verabschiedete er sich, indem er unsere Hand ergriff und mit tränenden Augen sagte: „Vater, Mutter, nehmt es nicht leicht, vergeßt nicht, was ich euch gesagt habe!“ Meine Frau und ich schauten uns lange an. Fliehen -, sechs verheiratete Kinder mit zwei Enkeln verlassen, an denen das Herz so hängt? Kommt eben diese Warnung nicht vom Herrn? Dich verfolgt ja niemand, dachte ich, darf ich aber bleiben? Nein. Ein paar Tage darauf kam dann eine Warnung von ganz anderer Seite. Drüben im Tschattkal – Gebirge hausten noch etliche tausend Mohammedaner, welche schon jahrelang von den Kommunisten bekämpft, aber nie besiegt worden waren. Ungefähr 30 Kilometer von unseren Dörfern waren plötzlich 50 Mann von ihnen herübergekommen, hatten ein Kirgisen – Aul (Dorf) überfallen und dabei Lebensmittel nebst 50 Pferden geraubt. Sie banden zwei Kirgisen dieses Dorfes an Händen und Füßen, hängten sie einen Meter über der Erde auf und machten ein Feuer unter ihnen an, wodurch sie nun bei lebendigem Leibe verbrannten. Dann schickten diese Räuber 28 Befehle an gewisse reiche Kirgisen und verlangten, daß bis zu einem festgesetzten Tage so und soviel Lebensmittel, Kleider und Geld an einen bestimmten Ort gebracht werden müßten. Von uns Deutschen verlangten sie alle besseren Rassepferde. Am Schluß eines jeden Befehls stand dann noch die Warnung: „Jeder, der sich dieser Forderung widersetzt, wird verbrannt, wie jene beiden Menschen.“ Als ich diese Nachricht hörte, sattelte ich mein Pferd und ritt zu dem überfallenen Dorf, um mich von der Wahrheit zu überzeugen. Ich fand die Aussage am Tatort bestätigt und ritt sofort weiter nach Aulie – Ata. Hier meldete ich den Vorfall unserem Kreiskommissar. Dieser telegraphierte sofort nach Taschkent und bat um Militär. Als ich nach Hause kam, empfing mich meine liebe Frau mit den Worten: „Wo du hingehst, da gehe ich mit, denn ich gehöre zu dir.“ Wir wollten nun beide reisen, aber wie? Wie bekomme ich einen Ausweis für einen Auslandspaß, da doch in der Tscheka (TschK - Ein Tschekist im engeren Sinne ist ein Mitarbeiter der Allrussischen Außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution und Sabotage (Tscheka) und ihrer örtlichen Einheiten. - E.K.) meine Feinde sitzen? Wir taten zunächst das, was alle Gotteskinder tun dürfen; wir sagten es unserem himmlischen Vater mit den Worten: „Vater, wenn es Dein Wille ist, daß wir gehen sollen, dann öffne und ebne auch die Wege.“ Ich ließ mir dann von unseren Kolonieamt eine Beglaubigungsurkunde ausstellen, dass ich weder beim Staat noch bei einem Privatmann Schulden habe. Mit dieser Urkunde fuhr ich dann zur Stadt. Als ich den anderen Morgens in der Tscheka erschien, sah ich niemanden von meinen Feinden. Ein mir ganz fremder russischer Bauer saß da und frug mich nach meinem Begehr. Ich überreichte ihm mein Papier mit der Bitte um einen Auslandspaß. Dieser las das Papier durch und sagte: „Ich bin gestern erst angekommen, und da ich Sie nicht kenne, muß ich in den Büchern nachsehen, ob Sie nicht irgendwie politisch verdächtigt sind.“ Er suchte in den diesbezüglichen Büchern meinen Namen und fand ihn nicht. So gab er mir sogleich eine Legitimation für einen Rußlands – Paß. Dann reichte er mir die Hand und wünschte mir Glück zur Reise. Als ich nun auf der Straße war, fragte ich den Herrn: „Wie wird`s nun mit der Fahrkarte? Sorge Du, o Vater, bitte dafür!“ Der wenigen Züge wegen gab es nämlich Fahrkarten, und wenn man glücklich eine hatte, kam man des großen Andrangs wegen oft nicht mit. Der Vater im Himmel aber hatte schon für alles gesorgt. Ich war noch nicht weit gegangen, da kam mir ein alter Freund, ein Bahnbeamter, entgegen und sagte zu mir: „Ich habe gehört, daß Sie mit Ihrer Frau nach Moskau fahren wollen. Ich will Ihnen ein Anerbieten machen. Ich habe dringende Geschäfte in Moskau zu erledigen und habe von der russischen Regierung meines langjährigen Dienstes wegen einen ganzen Waggon zur Verfügung gestellt bekommen mit der Erlaubnis, 2 Kühe, 25 Hühner und 30 Zentner Lebensmittel mitzunehmen. Da ich nun nicht in der Lage bin, dieses Recht auszunützen, mache ich Ihnen den Vorschlag, nützen Sie bitte dieses Recht aus und bezahlen Sie mir dann in Moskau, was sie denken. Ich weiß, daß Sie mich nicht betrügen werden.“ Ich nahm dieses Anerbieten mit Freuden an, als vom Herrn geschenkt und dankte herzlich. Dann fuhr ich nach Hause, und wir fingen an, uns fertig zu machen. Immer näher kam der Tag der Abreise. Es ist unmöglich, den Abschied von den Kindern, den lieben Kleinen, von Haus und Hof zu beschreiben. Das kann nur der verstehen, der es durchlebt hat. Ich ging nun daran, den Waggon einzurichten. Zwei Kühe, vier bis fünf Zentner Rauchschinken, sechs bis sieben Zentner Käse, sieben bis acht Zentner Reis, Obst und Mehl wurden auf der einen Seite eingeladen. Auf die andere Seite stellte ich die Kühe, und über ihnen richtete ich einen Futterraum ein. Den Zwischenraum teilte ich in eine Küche, zwei kleine Wohn- und Schlafräume für unseren Wirt, den Bahnbeamten, sowie für uns. Dieser brachte dann noch 25 Hühner mit. So war für alles gesorgt. Täglich hatten wir frische Milch und Eier. Nach 18 Tagen guter Fahrt waren wir in Moskau. Hier waren wir froh, daß wir soviel eingeladen hatten, den als wir nach Moskau kamen, war unser Geld entwertet. Nachdem ich nun dem Beamten eine Kuh gegeben hatte, womit er sehr zufrieden war, verkaufte ich den größten Teil der Lebensmittel und hatte so wieder Geld Weiterreise. Was für einen Gott haben wir, wie väterlich und fürsorglich hatte Er alles schon vorher bedacht. Ja, da kommt man nicht aus dem Staunen und Denken heraus. In Moskau galt es nun, Auslandspässe zu besorgen. Nach mancherlei Hin und her bekam ich auch diese, dazu die Einreiseerlaubnis nach Deutschland, sowie das Visum, das aber nur auf 4 Monate lautete. Das machte uns jedoch nicht wankend, denn wir wußten, wem wir unsere Sache anvertraut hatten. Als dann ein deutsches Schiff nach Petersburg kam, erhielten wir die Nachricht, daß nach menschlichem Ermessen an ein Fortkommen nicht mehr zu denken sei. Da uns jedoch ein Herr aus der deutschen Gesandtschaft einen Empfehlungsbrief gab, fuhren wir nach Petersburg ab, nachdem wir die Kuh und noch einige Produkte verkauft hatten. Dort angekommen, begaben wir uns sofort zur Schiffsgesellschaft, um noch Fahrkarten zu bekommen. Dort schrie mich der Beamte an: „Warum kommen sie so spät, die Plätze sind alle verkauft.“ Ich jedoch überreichte ihm ruhig meinen Empfehlungsbrief. Als er ihn gelesen hatte, war er die Höflichkeit selbst. „Bitte, setzen sie sich,“ sagte er, „ich will tun, was sich machen läßt.“ Dann rief er seinem Sekretär zu: „Bitte, noch zwei Fahrkarten!“ Sich wieder zu mir wendend sagte er: „Ich kann Ihnen nicht mehr solche Plätze anweisen, wie ich wohl gerne möchte, es ist schon alles besetzt. Machen Sie doch bitte deswegen keinen Krach in Berlin.“ Ich versicherte ihm natürlich dies, worauf er sich beruhigte. Dann sagte er: „Warten Sie, ich gebe Ihnen noch einen Empfehlungsbrief zur Zollstation mit, sonst werden sie dort nicht mehr angenommen.“ Mit dieser Empfehlung eilten wir nun zum Zollamt. Das war aber schon geschlossen. Zwei Rotgardisten hielten Wache und ließen niemand mehr hinein. Als bald darauf ein Herr erschien, übergab ich ihm das Schreiben und erhielt sofort Zutritt. Während alle Passagiere ganz entkleidet wurden, ließ man uns frei durch, und wir begaben uns zum Schiff. Als wir auf dem Schiff waren, kam der Beamte auf uns zu, der uns die Fahrkarten gegeben hatte. Er hatte für Plätze gesorgt und uns dem Kapitän empfohlen. Zum Abschied sagte er dann: „Herr Jantzen, Sie haben gewiß noch Sowjet – Geld, geben Sie es uns schnell, ich gebe Ihnen deutsches Geld dafür.“ Woran ich nicht dachte, mußten andere Leute denken. So lichtete dann unser Schiff die Anker und stach in See. Petersburg wurde kleiner, immer kleiner, bis es endlich verschwand. Oben Himmel, unten Wasser; die Heimat mit allem, was uns wert und teuer war, lag hinter uns, auch ganz Rußland mit dem unsagbaren Ach und Weh.
Lieber Leser, kannst du die Schwere dieser beiden letzten Worte verstehen?
Du trautes Heim bleibst mit unseren Lieben dort zurück.
O, himmlischer Vater, erbarme dich über uns arme, zerrissene Land mit seinem Volk und unseren Lieben. Vor uns die dunkle Zukunft. Was sollen wir zwei alten erwerbslosen und kranken Leutchen anfangen? Weg die trüben Gedanken! Vater, Du führst uns ja. Du bist mit uns, es muß gut gehen.
Kaum hatten wir das freie Wasser erreicht, da brach ein Sturm aus, der 4 ½ Tage dauerte. Die Wellen stürzten über`s Deck. Aber doch, wie schön war es auf dem deutschen Schiff, trotz des Unbills der Witterung. Die freundliche Behandlung von Seiten des Kapitäns tat uns wohl, überhaupt kamen uns alle Leute so freundlich vor. Wir waren etwa 100 Passagiere, fast alles Flüchtlinge, Deutsche, Juden und Russen. Die Besatzung des Schiffes eiferte förmlich, uns Liebesdienste zu erweisen. Am 3. Juni 1923 kamen wir dann wohlbehalten in Stettin an. Hier passierten wir ungehindert das Zollamt und fuhren noch in der Nacht nach Berlin. Als ich dort Fahrkarten nach Wiedenest lösen wollte, hieß es: „Dahin gibt es keine, das ist besetztes Gebiet.“ Darauf löste ich mir eine Karte nach Hannover, um hier die Schwester meiner Frau aufzusuchen, eine Witwe mit sechs Kindern, die schon 1918 aus der Ukraine nach Deutschland flüchten mußte. Ihr ältester Sohn war infolge der Unterernährung krank, alle anderen arbeiteten in der Fabrik, konnten aber nicht soviel Geld verdienen, daß es langte. Hier nun packten wir den letzten Rest unseres Proviants aus. Wir hatten noch einen Sack Zwieback, etliche Rauchschinken und Käse, die hier guten Absatz fanden. Als wir endlich nach sieben Wochen erfuhren, daß Wiedenest nicht im besetzten Gebiet liegt, fuhren wir sofort nach dort. Bei sehr lieben Geschwistern nicht weit von Wiedenest, fanden wir die denkbar freundlichste und liebevollste Aufnahme. Und wie wunderbar, in schönem Rahmen unter Glas hing hier das schöne Gedicht, welches ich das erstemal im Gefängnis von einer Schwester bekam: „Wie schwer ist`s doch, ganz still zu sein“ usw. War das Zufall? Ich bin in den drei Jahren meines Hierseins schon ziemlich im Lande herumgekommen und habe dieses mir so lieb gewordene Gedicht noch nirgends angetroffen.
Wenn ich nun so mein vergangenes Leben überschaue, so sehe ich überall die Spuren der Weisheit und Liebe Gottes. Mit wieviel Langmut und Geduld hat Er mich in den Tagen und Jahren meiner Verirrung gemahnt und getragen! In den scheinbar kleinsten Kleinigkeiten war Seine gute Hand stets bei mir, um zu helfen und die Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Als Sein treues Eigentum habe ich die Worte des Psalmisten erfahren: „Da dieser Elende rief, hörte der Herr und half ihm aus allen Nöten.“ Ps. 34, 7.
Gerade die Tatsache, daß der allmächtige Herr sich sich des Elenden erbarmt und ihn rettet, zeigt Ihn in Seiner Größe und Herrlichkeit. Ist dies nicht ein Wunder? Meine Lebensgeschichte zeigt dies ganz klar, daß auch heute noch Wunder geschehen. Lieber Mitpilger! Wenn du bis heute diesem wunderbaren Herrn mißtraurisch aus dem Wege gegangen bist, laß dich hierdurch mahnen, zu Ihm zu kommen, dann wirst du die gleichen Wunder, ja vielleicht noch größere erleben.