Meine Lebensgeschichte. Von Hermann Jantzen in „Offene Türen“ 1926, S. 66 - 74, Fortsetzung

Abgeschrieben von Elena Klassen (Email), alle ihre Berichte.

Meine Lebensgeschichte. Von Hermann Jantzen in „Offene Türen“ 1926, S. 66 - 74

(seine Erinnerungen haben die Grundlage des Buches „Im wildem Turkestan“ gebildet)

Fortsetzung.

Nach etlichen Tagen kamen wir an unseren Bestimmungsort an. Es war ein Urwald ein einem großen Bewässerungskanal, nach dem man die ganze Gegend Lausann nannte. Mit Beilen und Hacken arbeiteten wir uns einen Landungsplatz aus, um Menschen und Sachen auszuladen und da es schon September und daher ziemlich kalt war, bauten wir uns so schnell wie möglich notdürftige Erdhütten. Dann suchten unsere Väter in der Umgebung eine geeignete Stelle zur Gründung eines Dorfes. Nachdem sie die Stelle für das Dorf gefunden hatten, wurde eine Straße gehauen, die Baustellen vermessen und verlost. Nach der Verlosung beeilte sich ein jeder, so schnell wie möglich seine Baustelle in Besitz zu nehmen und nach etlichen Tagen wohnten wir schon alle in warmen Erdhütten. Bald jedoch wurden wir gewahr, daß wir auch Nachbarn hatten und gerade keine angenehmen, wie es uns scheinen wollte. Etwa fünf Kilometer von uns hauste ein wilder Turkmenen – Stamm, Tschandur genannt, der wie alle Turkmenen Chiwas aus räuberischen Nomaden bestand, die in Filzzelten wohnen. Bald besuchten sie auch unsere Siedlung; doch zunächst nur aus Neugierde, um zu sehen was wir hier trieben. Man merkte nichts Feindseliges. Des Nachts umschlichen unsere Häuser viele Arten von wilden Tieren und weckten uns oft durch ihr schauerliches Geheul auf. Es waren Schakale, Füchse, Wölfe, Hyänen, Luchse, ja sogar ein prächtiger Königstiger. Dieser, wohl merkend, daß wir friedliebende Leute seien, machte im Winter jeden Morgen seinen Spaziergang durch das Dorf. Sämtliche wilden Tiere sind hier wenig gefährlich, da sie sich reichlich an dem Vieh der Turkmenen sättigen können, das Tag, und Nacht, Winter und Sommer draußen ist. Hirsche, Rehe und Wildschweine, Fasanen und Rebhühner bergen jene Wälder dort im Überfluß. So lebten wir denn ein Jahr in Ruhe und Frieden und konnten und schon gut mit den Turkmenen, unseren Nachbarn, verständigen, bis sie herausgefunden hatten, daß wir keine Waffen hatten und auch keine tragen wollten. Wir hatten schon ein gut Teil Land urbar gemacht und bauten schon unser Gemüse und ernteten einige Frucht. Ich hatte den Winter über wieder Unterricht bei einem Mulla in der chiwesischen Sprache. Da, eines Nachts wurden einem Kolonisten ein paar Pferde gestohlen. Wir paßten nun auf, und wer war es? Unsere lieben vertrauten Nachbarn, die Turkmenen! Durch diesen Diebstahl dreist geworden, stahlen sie in frecher Weise Tag für Tag, bezw. Nacht für Nacht. Wir sahen es und standen dabei, aber rührten keinen Finger, denn wir glaubten nach dem Wort Matth. 5, 39 handeln zu müssen: Widerstehet nicht dem Bösen usw. Wir jungen Männer riefen die Räuber manchmal an und baten sie, uns in Frieden zu lassen, dann antworteten sie uns mit Flüchen und ein paar Kugeln, die jedoch in der Dunkelheit ihr Ziel verfehlten. Mein Vater hatte damals fünf Pferde und fünf Kühe. In einer mondhellen Nacht kamen vier Tschandurs und holten das Vieh aus dem Stall und trieben es weg; wir standen im Haus am Fenster und schauten zu. Meinen jüngeren Bruder und mich packte der Unwille; wir wollten hinaus und ihnen den Raub abnehmen, doch da trat uns unser Vater entgegen mit den Worten: „Achtet ihr den Glauben eurer Väter so gering? Die Wehrlosigkeit nach dem Sinne Christi zu bewahren verließen sie Holland und zogen nach Westpreußen; verließen dieses um der gleichen Ursache willen, wie auch wir unsere Heimat an der Wolga verlassen haben. Wieviel Müh und Not haben sie ausgehalten! Wollt ihr alles mit einem Schlage zunichte machen? Wenn uns die Räuber auch alles nehmen, wir werden deshalb keine Not leiden, denn der Herr wird für uns sorgen.“ Diese Worte meines lieben Vaters beruhigten mich und meinen Bruder, wir konnten nun zusehen,wie unser Vieh geraubt wurde. Doch es kam noch schlimmer. Eines Nachts drangen die Räuber in das Haus eines jung verheirateten Kolonisten, ermordeten ihn und wollten seine Frau rauben. Sie jedoch entkam durch`s Fenster und floh zu Nachbarn, wo sie sich verbergen konnte. Noch einige male haben sie versucht, Frauen zu rauben, doch sorgte der Herr dafür, daß es ihnen nie gelang. Sechs Monate lang dauerte diese stete Angst; weder Tag noch Nacht ließen uns die Räuber in Ruhe. Da erschien eines Abends ein höherer chiwesischer Beamte mit einer Abteilung Soldaten, der nach dem Dorfältesten fragte. Er wurde zu meinem Vater gewiesen. Der Beamte erschien dann auch mit seinen Soldaten in unserm Hof. Als er sich dann mit uns unterredete, merkte er, daß wir alle so abgespannt und verstört aussahen. Er erkundigte sich nach der Ursache und wir schilderten ihm darauf unsere Lage. Er hörte uns ruhig an und sagte: „Dies wird ein Ende haben, ich werde für eure Sicherheit sorgen.“ Die folgende Nacht schliefen wir dann ruhig und fest wie noch nie im Leben. Des anderen Morgens teilte uns dann der Beamte die Ursache seines Kommens mit. Der Seit – Muhammed Raim Chan, Fürst von Chiwa, läßt fragen, sagte er, ob unter euch Tischler, Schlosser und dergleichen Handwerker sind und ob die Tischler verstehen, Glas auf Holz zu schmieren (er meinte, Holz zu polieren). Wir konnten dieses bejahen und bestimmten einen Meister, der dem Beamten folgen sollte. Ich selbst sollte den Posten eines Dolmetschers vertreten. So ritten wir denn am anderen tage nach der 150 Kilometer entfernt liegenden Hauptstadt Chiwa. Dort wurden wir persönlich von Chan empfangen und freundlich bewirtet.

Nachdem der Beamte dem Chan von unserer Notlage berichtet hatte, und was wir für Leute seien, die noch nicht einmal eine Flinte trügen, fragte der Chan den Meister und interessierte sich lebhaft für seine Kunst. Als der Meister ihm dann versicherte, daß noch mehr Handwerker in unserer Mitte seien, ordnete der Chan unsere Übersiedlung nach Chiwa an. Mit vielen seidenen Chalaten beschenkt entließ er uns mit einem höheren Beamten, namens Mulla Meschrips. Nach neun Tagen Abwesenheit kamen wir wohlbehalten bei unseren Kolonisten in Lausann an. Sie empfingen uns in froher Stimmung, da die zurückgebliebenen Soldaten sie vor Überfällen geschützt hatten. Unser Begleiter Herr Mulla Meschrip hatte vom Chan den Befehl bekommen, aus dem zehn Kilometer von uns entfernt liegenden Dörfern der Waalathen Arbas zusammenzutreiben, damit unsere Übersiedlung schnell von statten ginge. In einer Woche war dann auch unsere Übersiedlung vollendet. Unser neuer Ruheplatz war ein großer fürstlicher Garten, von hoher Mauer umgeben, wie es hier zu Lande Sitte ist, um vor den raublustigen Jamuden, Turkmenen und Schauduren geschützt zu sein. Akmet – schid (Ak – Metschetj – E.K.) hieß der Garten, wo wir im April 1884 unsere Häuser aufbauen durften. Wir nannten dann unser Dorf mit dem alten Namen. Nach Akmetschid siedelten aber nur 40 Familien über. 25 – 30 Familien der Unsrigen fuhren auf ihren eigenen Wagen nach Norden, durchquerten dann die große Ust – ust – Steppe, die sich zwischen dem Kaspis und dem Aralsee ausdehnt, und kamen endlich nach Monaten nach Orenburg. Von hier benutzten sie die Eisenbahn bis zu einem Ostseehafen und schifften sich nach Amerika ein, wo es ihnen wohl allen heute recht gut geht. Alle Handwerker aus unserer Mitte traten nun sofort in den Dienst des Chan und standen sich, da er immer fürstlich zahlte, sehr gut. Besonders interessierte sich der Chan für mich, da ich in sehr kurzer Zeit die Landessprache erlernt hatte. Er stellte mich, als ich 18 Jahre alt war, als Dolmetscher an und ich wurde sein besonderer Liebling. Im Sommer des Jahres 1885 erkrankten der großen Hitze wegen alle Bürger von Akmetschet, außer zweien an Typhus. Auch ich wurde von dieser Krankheit befallen und etliche Monate aufs Krankenbett geworfen. Tagelang blutete unaufhörlich die Nase, bis ich ganz entkräftigt war und man mich aufgegeben hatte. Ich selbst war bereit, abzuscheiden und freute mich darauf, bald meinen Herrn zu sehen, um bei ihm zu sein alle Zeit. Noch in Syrabulak, damals an der bucharischen Grenze, zeigte mir der Herr meine Sünden. Ich rang eine Nacht im Gebet und fand Vergebung und Frieden. Jenen köstlichen Frieden, den nur der kennt, der ihn erfahren hat. So wartete ich nun auf den Wink des Herrn. Doch Er hatte es anders beschlossen, zu meinem großen Leidwesen. Ich freute mich ja so sehr, Ihn zu sehen. Mein Bewußtsein kehrte zurück, doch war ich noch so schwach nach dem Blutverlust, daß ich auch nicht das kleinste Zeichen des Lebens geben konnte. Dann aber ging die Gesundung rasch von statten und ich trat wieder in den Dienst des Chans. Hier am Hofe, angesichts der weltlichen Herrlichkeit und Pracht, öffnete sich mein Herz erst unmerklich, dann aber immer mehr der weltlichen Pracht, sodaß ich vor mir selbst Angst bekam und fühlte, von hier mußt du fort! Ich heiratete und reichte meine Entlassung ein. Der Chan bewilligte sie und nachdem ich Abschied von ihm, meinen lieben Eltern und Verwandten genommen hatte, begab ich mich auf die Reise nach dem Osten. Unser Ziel war die 1800 Kilometer entfernte deutsche Ansiedlung Nikolaipol bei Aulie – Ata. Ich mietete ein mittelgroßes mohammedanisches Frachtschiff, auf dem wir dann unsere Reise den Oxus hinauf begannen. Wir waren im ganzen vier Familien. Unsere Besatzung bestand aus acht Schiffern, die das Schiff den Strom hinauf treidelten (d.h. vom Ufer aus mittels Ziehblatt und Leine, die am Schiff befestigt ist, zogen). Die 640 Kilometer auf dem Strom legten wir in einem Monat zurück und kamen wohlbehalten in Tschardschui an. Von hier aus konnten wir nun bis Samarkand über Buchara die Eisenbahn benutzen, die die Russen, als sie 1881 und 1884 Transkaspien eroberten, gebaut hatten. Diese Bahn fuhr von Kaspischen Meer, Krasnowodsk über Kisilarwat, Askabad, Merw, Tschardschui, Samarkand und später auch bis Taschkent. Wir mußten in Samarkand aussteigen, mieteten uns dort ei8nige Arbas und fuhren auf diesen die letzte Strecke von 700 Kilometer über Taschkent, Tschimkent nach Nikolaipol. Das war im Herbst des Jahres 1889. Im Frühjahr 1890 gab die russische Regierung einen Dorfplan heraus für ein Dorf mit Namen Orloff, wohin wir mit mehreren deutschen Familien übersiedelten. Nun hieß es wieder von vorne anfangen, schwer arbeiten, das nötige Vieh und die notwendigen Geräte kaufen. Schwer arbeiten konnte ich nicht, da ich körperlich gebrechlich war und als Dolmetscher nie gearbeitet hatte. Für die schwere Arbeit mußte ich mir Leute nehmen und sie bezahlen. So hieß es zwei Jahre lang immer bezahlen und nichts einnehmen. Ich hatte mich schließlich so verausgabt, daß ich mir nicht mehr zu helfen wußte. Da bot mir unser Kreischef von Aulie – Ata, Hauptmann Kallaur 1892 eine Försterstelle an, die ich mit Freuden annahm, obwohl ich keine Ahnung vom Forstberuf hatte. (Außerdem standen die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse sehr niedrig. Ein Zentner Weizen kostete 1,20 M., ein Pfund Butter 0,30 M., 100 Eier 1 M., Schweinefleisch 0,40 M., Rindfleisch 0,06 M.m Schaffleisch 0,10 M. Das Pfund).

Zur damaligen Zeit wurde von einem russischen Forstbeamten noch kein besonderes Studium verlangt, als nur die Beherrschung der russischer Sprache im Lesen und Schreiben und der mohammedanischen Sprache im Umgang mit den buntgemischten Arbeitergruppen.

Alles andere brachte dann später die Praxis. Von zu Haus konnte ich zu Pferde mein Revier bearbeiten und hatte doch wenigstens als frisch gebackener Förster jeden Monat ein kleines Gehalt. Unsere deutschen Dörfer bei Aulie – Ata liegen in einem 250 Kilometer langen und 10 – 25 Kilometer breiten Tal des Tjan – Tschan – Gebirges, das von beiden Seiten von Gletscher bedeckten Bergen eingeschlossen ist. Mitten hindurch fließt von Osten nach Westen der Talaß. Trotz des tropischen Klimas Turkestans herrscht hier in diesem Tal ein angenehmes, kühles, gesundes Klima, das eine gute Vegetation zur Folge hat. Das Land eignet sich durchschnittlich gut für den Getreidebau. Durch rastlosen Fleiß haben die Deutschen herrliche Obstgärten angelegt, doch gedeiht der hohen Lage wegen der Pfirsich und die Traube nicht mehr. Die Wälder die ich zu beaufsichtigen hatte, lagen in noch höher gelegenen Tälern der Tjan – Tschan oder Ala – Tau Gebirges und sehr zerstreut. Für eine Inspektionsreise zu Pferde brauchte ich einen Monat. Die Bewohner dieser wild zerklüfteten Berge sind Kara Kirgisen, Menschen mongolischer Herkunft, die zum Islam bekehrt wurden. Wild und frei aufgewachsen ernähren sie sich von Viehzucht, Jagd und Pferdediebstahl, sind dabei aber sehr gastfrei wie alle Mohammedaner.

Im Jahre 1895 erschien unter diesen Kara – Kirgisen plötzlich ein Exfürst der mohammedanischen Usbeken mit Namen Israel Chan Turra aus Fergana, der sie gegen die russische Regierung aufstachelte. Es war ihm nicht schwer, die Kirgisen zu einem Aufstand zu bewegen, empfanden es doch alle Mohammedaner Turkestans als eine Schmach, daß sie vom Zaren, einem weißen Ungläubigen beherrscht wurden. Im Februar bekam ich in einigen Revieren von diesem geplanten Aufstand zu hören und meldete dieses unverzüglich dem Kreischef Herrn Kallaur. Der ließ dann auch sofort Israel Chan Turra mit acht seiner Rädelsführer verhaften. Die Untersuchungskommission bestätigte aber nicht den Tatbestand. Dadurch aber kam die Ehre und Existenzfrage unseres Kreischefs ins Schwanken und er suchte die Sache unwahr zu machen. Es mußte nun ein Mensch gefunden werden, der die unangenehme Aufstandsgeschichte erfunden hatte. Für solche Verleumdung war natürlich ein Deutscher besser geeignet als ein Russe. Was lag nun näher, als mir die Schuld einer erlogenen Meldung zuzuschieben. Was aber hatte ich dabei verschuldet? Ich hatte die Meldung aus dem Kirgisischen ins Russische übersetzt und von zwei Dorfältesten der Kirgisen beglaubigen lassen. Kallaur verstand es, alle Zeugen mundtot zu machen und mich als den Erfinder dieser Sache beim Gouvernements – Gericht zu verklagen. Das Gericht hörte auf Kallaurs Befehl hin meine 24 zeugen nicht an und verurteilte mich wegen Beleidigung eines Exfürsten zu 12 Jahren Verbannung nach Sibirien unter Gewährung einer sechs Monate langen Appellationszeit. Was ich zu jener Zeit innerlich gelitten habe, kann ich nicht beschreiben. Ich war Familienvater von sechs Kindern, vereidigter Förster, hatte wahrheitsgetreu gehandelt und… war nach Sibirien verbannt. Aber über mir wachte der Hüter Israels, der nicht schläft nicht schlummert. Und Jehova hörte es. (4. M. 12,2) Sein wachendes Auge sah meine schwierige Lage, Sein Ohr hörte es, was die Menschen wider mich redeten. Er hatte auch schon für den Mann gesorgt der mich aus dieser schrecklichen Lage befreien sollte. Zur Zeit der Gerichtsverhandlung weilte in Aulie – Ata ein junger Graf Anitschkoff, der ein einflußreicher Jurist in Petersburg war und hier seinen juristischen Studien oblag. Er interessierte sich für meinen Prozeß, war inkognito dem ganzen Lauf meiner Sache gefolgt und hatte ebenso an der Gerichtsverhandlung teilgenommen und den Urteilsspruch der Geschworenen gehört. Ich beantragte, wie schon erwähnt, die mir von Gesetzes wegen zustehende Apellationszeit ohne irgend zu wissen warum.

(Die Dorfältesten der Kirgisen waren schon lange im Gefängnis und der Exfürst Chan Turra war mit seinen Getreuen in Ehren entlassen worden. Sie entkamen dann auch mit Auslandspässen nach Kaschkar oder Chinesisch – Turkestan. Böse Zungen erzählten später, dass Kallaur von dem Exfürsten 1800 Rubel erhalten habe.)

Spät am Abend, dieses mir unvergeßlichen Gerichtstages klopfte es an das Fenster meines Quartiers. Ich war noch wach und ging darum sofort ans Fenster, um zu sehen, wer der nächtliche Ruhestörer wäre. Als ich das Fenster öffnete, erblickte ich einen kleinen sartischen Knaben, der mir einen Brief übergab. Erstaunt öffnete ich das Schreiben und las: Graf von Anitschkoff ersucht sie sofort zu ihm zu kommen. Gleich machte ich mich fertig und begab mich an den bezeichneten Ort. Hier traf ich den Grafen und noch zwei hohe Beamte, die mich begrüßten und mir drei gleichlautende Apellationsklagen vorlegten, die sie in meinem Namen verfertigt hatten. Eine an den „Allerhöchsten Namen“, den Kaiser, eine an den General – Gouverneur Turkestans, Werbowski und die dritte an die Oberste Gouvernements – Gerichts – Kontrollstelle von Turkestan mit der Bitte, die ganze Aufstandsaffäre nochmals zu untersuchen. Sie sagten mir dann, daß sie von Anfang an der Überzeugung gewesen seien, daß die Aufstandsaffäre auf Wahrheit beruhe. Es sei ihnen als Russen ziemlich peinlich gewesen zu sehen, wie ich als Deutscher so ungerecht behandelt wurde und das habe sie veranlaßt, mir zu helfen. Dann unterschrieb ich die Papiere und sie sorgten für die Beförderung. Die drei Bittschriften hatten Erfolg, schon nach zwei Monaten kam das ganze Gouvernementsgericht von Taschkent nach Aulie – Ata. Die Verhandlung wurde anberaumt, meine 24 Zeugen machten ihre Aussagen, worauf mein Freispruch erfolgte. Das war alles, was in dieser Sache geändert wurde. Nun war ich frei, hatte aber von nun an meinen erbitterten Feind in dem Kreischef Kallaur, denn durch meinen Freispruch blieb ein dunkler Schatten auf seinem bis jetzt unbescholtenen Namen haften. Eines Tages lud er mich ein in sein Kabinett und schwor mir, sich unter dem Bilde seines Schutzpatrons bekreuzigend, daß er dafür sorgen würde, daß ich doch noch nach Sibirien verbannt würde. Auf Schritt und Tritt verfolgte er mich und sann auf alle Art und Weise Rache. So wurde ich gezwungen, Haus und Hof zu verlassen und nach Taschkent zu fliehen, wo ich auf Fürsprache meines Freundes und Gönners Graf Anitschkoff sofort eine Försterstelle bekam. Mein Land in Orloff wurde mir auf Befehl Kallaurs abgenommen, und meine Frau mußte mit den sechs Kindern folgen. Hier lebten wir nun drei Jahre unter Tadschiken 90 Kilometer von jeder europäischen Siedlung entfernt in Ruhe und Frieden. Ich lag meinem Dienst und Waidwerk ob und verstand auch meine Flinte gut zu gebrauchen. Denn die Versorgung meiner Familie hatte mich dazu bestimmt. Hier in der Wildnis unterrichtete meine liebe Frau unsere schulpflichtigen Kinder, während ich den ältesten Sohn Abram auf der höheren russischen Schule in Taschkent untergebracht hatte. Mir persönlich als Waidmann sagte dieses Leben zu, denn ich hatte ein wildreiches Revier, besonders an Steinböcken, Bergschafen und Wildschweinen. Für die Familie jedoch was das Leben unter den Tadschiken sehr einsam, und da meine liebe Frau viel krank war, des herrschenden Malariafiebers wegen, sah ich mich genötigt, sie mit den Kindern nach Orloff zu schicken. Ich selbst begleitete sie einige Tagereisen und kehrte dann in mein Quartier zurück. Zurückgekehrt erschien ein reitender Bote mit meinem Schreiben vom Kreisgouverneur in Taschkent mit dem Ersuchen, daß ich sofort in der Kanzlei des Gouverneurs zu erscheinen hätte zur Aufklärung einer wichtigen politischen Sache. Ich schwang mich auf mein Pferd und ritt sofort mit dem Boten. Ein Offizier Karzeff empfing mich mit der Mitteilung, daß in der Kreisstadt Andischan vor drei Tagen in der Nacht von aufständischen Mohammedanern die ganze russische Garnison mit noch vielen europäischen Bürgern niedergemetzelt sei. Auf telegraphische Meldung jedoch sei sofort frisches russisches Militär aus Margelan und Kohan (Kokand? - E.K.) zur Stelle gewesen, die den Aufstand niedergekämpft hätten. Der Anführer sei ein Exfürst Israel Chan Turra, der mit noch vielen Aufständigen gefangen genommen sei. Bei genauer Untersuchung habe man gefunden, daß dieser Exfürst schon vor drei Jahren in Aulie – Ata Aufstandspläne geschmiedet habe, auch angezeigt worden sei, aber die ganze Sache sei von dem Kreischef Kallaur vernichtet und mundtot gemacht worden. Während dieser Mitteilung erschien der Gouverneur Kolpakowski in jener Kanzlei und packte mich ungeachtet aller Etikette am Arm, indem er sprach: Helfen Sie mir bitte nach Ihren Kräften diese Sache aufzuklären, in den nächsten Tagen kommt ein neuer Gouverneur und da die ganze Aufstandsaffäre in meine Dienstzeit fällt, so liegt die ganze Verantwortung auf mir und muß daher geregelt werden. Ich bat um die Erlaubnis meine Tagebücher holen zu dürfen, da ich dort alles verzeichnet hätte. Nach drei Tagen war ich mit meinen Büchern aus meinen Bergen zurück. Hier empfing mich eine neue Überraschung. Wie kommen Sie dazu, sagte mir der Adjutant, indem er mir ein Schreiben vorhielt, solch ein Schreiben an den neu angekommenen General zu richten. Der neue Gouverneur Dukowska war nämlich unterdessen eingetroffen. Ich war höchst erstaunt, eine mir täuschend ähnlich sehende Handschrift zu sehen in einem Schreiben, in dem die ganze Aufstandsaffäre von vor drei Jahren wahrheitsgetreu niedergeschrieben war. Es folgte dann die Bemerkung, daß sich Kallaur habe für 1800 Rubel bestechen lassen und dadurch der Exfürst freigekommen sei. Zum Schluß folgte eine Warnung an den neuen Gouverneur Dukowska, sich nicht, wie es hier in Turkestan üblich sei, bestechen zu lassen, da es doch zum Schaden für das ganze Land sei, wenn solche ernsten Aufstände nicht aufgedeckt und die Täter bestraft würden. Dann folgte meine deutlich nachgemachte Namensunterschrift.

Offenbar war dieser Brief von meinem Feinde Kallaur verfertigt worden. Doch mir blieb keine Zeit zum Denken, denn der Gouverneur erschien und winkte mir in sein Zimmer zu folgen, wo schon der neue Gouverneur Dukowska war, dem ich vorgestellt wurde. Letzterer schaute mich mit durchbohrenden Blicken an und fragte mich, ob ich diese Schrift aufgezeichnet hätte. Ich sagte frei: „Nein.“ Wie beweisen Sie das, sagte er. Ich wies auf den Poststempel, der Aulie – Ata und den 18. Mai angab. Ich bin aber, sagte ich, schon drei Jahre nicht in Aulie – Ata gewesen und hatte am 18. Mai mit dem Kreischef von Taschkent in meinem Revier Holzauktion. Die Erkundigung beim Kreischef bestätigte dies. Nun wurde ich dem Kanzleisekretär Hinski übergeben, der nach meinen Tagebüchern die Aufstandsaffäre von 1895 kopieren mußte. Diese Arbeit dauerte einige Tage. Nach Beendigung dieser Arbeit wurde ich mit dem Bescheid entlassen, ich könnte ruhig in meine Berge zurückkehren, sollte aber nicht eher nach Aulie – Ata schreiben, bis mir Herr Hinski Nachricht geben würde. Herr Hinski erhielt dann den Befehl, in Aulie – Ata eine Untersuchung anzustellen. Zuvor erhielt jedoch Kallaur Befehl, Aulie – Ata zu verlassen und sich bis auf weiteres in der Stadt Wernoe aufzuhalten. Nach seiner Ankunft nahm Herr Hinski sofort den Dolmetscher Kallaurs fest, danach verhörte er alle Zeugen von 1895 und brachte auch nach verschiedenen Verhören den Dolmetscher Bokschurow dazu, daß er gestand, er sei der Vermittler der Bestechungsgelder vom Exfürsten an Kallaur gewesen. Am andern Morgen lag Bokschurow tot in der Zelle. Frau Kallaur, die überall ihre Spionen hatte, war von seinen Aussagen benachrichtigt worden und hatte ihm warmes Essen in die Zelle bringen lassen, das, wie die Obduktion der Leiche ergab, vergiftet war. Aber Frau Kallaurs Geld reichte aus, alles still zu machen. Schließlich wurde Hauptmann Kallaur, der 26 Jahre lang Kreischef in Aulie – Ata gewesen war, seines Amtes enthoben und dem Gericht übergeben. Der Exfürst Israel Chan Turra mit noch 97 seiner genossen wurden gehängt. Ich bekam die Weisung von Sekretär Hinski, nach Hause (Orloff) zurückzukehren, jedoch vorher nach Taschkent zu kommen. So ritt ich denn nach Taschkent, wo ich von ihm ein Schreiben an den Gouvernements – Oberförster erhielt. In diesem Schreiben war meine Beförderung zum Oberförster niedergelegt. Am 22. Dezember 1898 kam ich dann wohlbehalten bei meiner Familie in Orloff an. Bis zum März 1899 blieb ich daheim, um mich zu erholen und trat dann meine neue Oberförster – Stelle an. Es war ein großes Revier mit sechs Förstern. Die Försterei mit der Jagd machten mit trotz der großen Arbeit viel Vergnügen. Der Herr segnete unsere Arbeit und ließ mich zum Wohlstand kommen, wie nie zuvor. Trotz meines Wohlstandes und der Freude am Waidwerk war ich aber innerlich ein unglücklicher Mensch. Ich war lau geworden und befand mich in der traurigsten Lage, in der sich ein Gotteskind befinden kann. Die Freude am Herrn hatte ich verloren und die Freuden der Welt konnten mich nicht befriedigen. In solchem Zustand verließ ich damals, wie bereits erwähnt, Chiwa. Als mich dann die Armut zwang, die Försterstelle anzunehmen, schloß man mich aus der Mennoniten – Gemeinde aus, da ich ja nun ein Gewehr tragen mußte. Dies machte mich innerlich verbittert und einsam. Ich lebte nun mit der Welt und war innerlich tief unglücklich, trotz alledem habe ich viel und oft gebetet, und der Herr hat sich in Seiner Treue dazu bekannt, indem er mich aus den mancherlei Gefahren, in die ich durch mein Abenteuerleben oft geriet, errettete. War ich in Gefahr, das Beten zu vergessen, so schickte der Herr eine neue Gefahr, sei es auf der Jagd mit wilden Tieren, sei es unter den wilden Völkern der Steppe und Berge, oder sei es die Verleumdung jenes Herrn Kallaur, der Herr hatte acht auf mich, sein verirrtes Kind.

Ihm sei Ehre und Anbetung!

(Fortsetzung folgt.)