Meine Lebensgeschichte. Von Hermann Jantzen in „Offene Türen“ 1926, S. 45 - 52
Meine Lebensgeschichte. Von Hermann Jantzen in „Offene Türen“ 1926, S. 45 - 52
(seine Erinnerungen haben die Grundlage des Buches „Im wildem Turkestan“ gebildet)
Vorwort.
Dem vielseitigen Wunsche entgegenkommend, mit zagendem und zugleich schwerem Herzen ergreife ich die Feder, um meine Lebensgeschichte niederzuschreiben. Mein Herz sagt, „weil ich alles eher bin, als ein Schriftsteller“. So schrieben deutsche Autoren, die deutsch dachten und deutsch erzogen waren. Ich bin jedoch kein Deutscher, sondern bin in Rußland geboren und auferzogen, wo ich russische sprechen, denken und schreiben lernte. Dann lastet schwer auf mir die Frage: werden auch alle Leser meine Lebensgeschichte recht verstehen? Denn es liegt mir fern, dieses zu schreiben, um vielleicht als Abenteurer bewundert zu werden, oder durch die Schilderungen unserer zuletzt verlebten Jahre das Mitleid zu erregen. Nein, das ist nicht der Zweck! Da es aber heutzutage viele sogenannte Christen gibt, die die Bibel verächtlich beiseite legen mit den Worten: Es gibt ja keine Wunder mehr, möchte ich dem Leser, der meine Lebensgeschichte aufmerksam liest, Schritt für Schritt die Wunder Gottes in meinem Leben zeigen. Auch war einer von denen, die nicht an die Wunder Gottes glaubten, doch mein Lebensweg belehrte mich eines anderen, und wenn noch ein Funken von Aufrichtigkeit in dir ist, wirst du ein übers anderemal ausrufen: Wunderbar! Und du mußt erkennen, daß die wunderbare Hand Gottes mich geführt hat. Der Herr Jesus wußte, daß die Bibel von vielen Menschen verächtlich beiseite gelegt werden würde, darum hat Er zu aller Zeit Seine Jünger als lebendige Zeugen in die Welt gestellt. Ihr werdet meine Zeugen sein! So soll auch meine Lebensgeschichte ein lebendiges Zeugnis der Gnade Gottes sein. Der treue Herr möge einen jeden Leser segnen mit dem Segen, den Er in meine Lebensgeschichte niederlegt hat!
Das Dorf Hansau im Samara – Gebiet am linken Ufer der Wolga ist mein Heimatdorf. Dort wurde ich im Jahre 1866 geboren. Mein Vater G.A. Jantzen besaß vier mittelgroße Landgüter und war einer der leitenden Männer der Mennoniten an der Wolga*). Hier verlebte ich eine glückliche Jugendzeit bis zum Jahre 1879. Damals wurde auch im europäischen Rußland ein neues Wehrpflichtgesetz eingeführt, wodurch die große Scheidestunde für viele Mennonitenfamilien herbeigeführt wurde. Unsere Mennoniten Rußlands glaubten nämlich auf Grund des Wortes Gottes und der Väter Weise, nicht Militärdienst tun zu können. Das Wehrpflichtgesetz bezog sich nämlich auf jeden Mann, einerlei welcher Nationalität oder Konfession er sei.
Im Jahre 1879 hatte meine Vater in Gemeindeangelegenheiten in Petersburg zu tun. Am kaiserlichen Hofe traf er mit dem General – Gouverneur von Turkestan Baron von Kaufmann zusammen. Als mein Vater ihm die Lage der Mennoniten dem Militärdienst gegenüber schilderte, machte er ihm den Vorschlag, nach Turkestan auszuwandern. Baron von Kaufmann war ein Deutscher im russischen Dienst und hatte die Macht, Kolonisten in Turkestan anzusiedeln. Er garantierte für 25 Jahre die Befreiung von jeglichem Militärdienst und allen Staatsabgaben.
Nach Hause zurückgekehrt teilte mein Vater seinen Glaubensbrüdern den Vorschlag des General Baron von Kaufmann mit. Diese nahmen das Anerbieten als vom Herrn an und schickten zwei Kundschafter nach Turkestan ab. Nach sechs Monaten kehrten diese zurück und erstatteten den Gemeinden Bericht über Land und Leute. Der Bericht fiel zur Zufriedenheit aus, und mein Vater durfte dem Baron von Kaufmann berichten, daß ungefähr 200 Familien bereit wären, nach Turkestan auszuwandern. Mein Vater verkaufte seine Güter, sein totes und lebendes Inventar. Zehn Familien aus unserer Gemeinde taten dasselbe. Große, gemütliche Reisewagen wurden ausgerüstet und mit zwei oder drei guten Pferden bespannt. Am 3. Juni 1880 traten wir die ungefähr 3500 Kilometer lange Reise nach Taschkent, der Hauptstadt Turkestans, an. Unvergeßlich bleibt mir der Schmerz des Scheidens von der Heimat. Ich war damals ein Knabe von 14 Jahren. Mein Vater war als Regierungskreisbeamter trotz seiner Herzensgüte nach außen ein strenger harter Mann. Diese Stellung und die Verantwortung in der Mennoniten – Gemeinde ließen ihn wenig Zeit, um meinen drei Brüdern und zwei Schwestern das Scheiden zu erleichtern.
Meine Mutter jedoch, wie ich annehme, die allerbeste und liebste Frau der Welt, denn nie habe ich sie aufgeregt oder gar böse gesehen, verstand es, uns Kinder über das schmerzliche Scheiden von unserer lieben Heimat an der Wolga hinweg zu helfen. Erwähnt sei hier noch, daß die Wehrpflicht nicht allein die Ursache der Auswanderung war. Es befand sich seiner Zeit unter uns ein Mann mit guter Bibelkenntnis, der auf Grund des Buches Daniel und der Offenbarung Johannes festgestellt zu haben meinte, daß wir in der letzten Zeit, also vor dem Kommen des Herrn stünden und wir (Mennoniten) die Braut des Lammes im Zusammenhang mit dem Sonnenweib in Offenbarung 12, 6 und forderte uns auf, in der Wüste nach dem Osten zu ziehen. Die Behauptung nach dem Osten zu ziehen begründete er wohl auch aus gewissen Schriften von Jung – Stilling. Meine Eltern glaubten den Lehren dieses Mannes und unsere Mutter erzählte uns Kindern von dem nahen Kommen des Herrn Jesu in großer Pracht und Herrlichkeit für „uns“, die Seinigen, um uns heimzuholen. Dieses half uns denn auch über das Heimweh hinweg.
Mitte oder auch Ende September dieses Jahres gelangten wir nach einer sehr interessanten Fahrt nach Taschkent. Welch ein Unterschied zwischen unserer europäischen Heimat und den hier herrschenden Verhältnissen in Bezug auf Land und Leute! Wir waren jetzt in Zentralasien (Turkestan) mit seinem trockenen Klima und dem immer regenlosen, tiefblauen Himmel, wo im Sommer die Durchschnittshitze 45 Gr. Celsius im Schatten beträgt. Ein wechselvolles Bild bot sich unseren Augen auf der Reise. Unser Weg führte uns durch große wasserlose Steppen, die dann wieder durch Gras und wasserreiche Täler und Gebirge abgelöst wurden. Wir durchquerten große Wälder und sahen dann vor uns große fruchtbare Felder, denn der Boden ist hier sehr fruchtbar und gibt eine gute Ernte von Früchten, wie Weizen, Gerste, Hafer, Reis sowie Bambus und Zuckerrohr, da alle Ackerfelder von den Flüssen bewässert werden, die aus dem südlichen Tiantschan Gebirge kommen, und durch viele Kanäle bewässert werden. Der gute Boden, die gute, nie fehlende Bewässerung und die große Hitze geben einen guten Ertrag. Wie freuten sich unsere Augen an den herrlichen Gärten mit den schönen, in Europa fehlenden Früchten, wie Granatäpfel, Feigen, Pfirsichen, Aprikosen und Mailbeeren, aber auch Wein, Aepfel, Pflaumen und Kirschen von den schönsten Sorten. An den beiden Hauptströmen dem Syr – Darja und Amu – Darja fanden wir große Anlagen, in denen Melonen, Arbusen und Kürbisse gepflanzt waren, die an Größe und Wohlgeschmack ihres gleichen suchen müssen. So verschiedenartig wie die Beschaffenheit des Landes ist, so verschiedenartig sind auch die Völkerstämme, die es bewohnen. Die Eingeborenen zerfallen in vier Hauptklassen, die sich dann wieder aus verschiedenen Stämmen zusammen setzen. Die erste Klasse sind die Nomaden; sie zerfallen in Kara – Kirgisen, Kasack – Kirgisen, Kuraminissen, die sich dann wieder in verschiedene, oft sehr unähnliche Stämme zergliedern. Die zweite Klasse sind die ansässigen Bauern und Landwirte, die in Waalahten, Tadschiken, Kara – Kalpacken, Kiptschaken, Suhs, Uiguren, Nauimnen und Arabs zerfallen. Die dritte Klasse sind die Städter, nämlich Handwerker und Händler. Ihre Hauptvertreter sind die Sarten und Usbecken. Die vierte Klasse sind die Raubvölker, Turkmenen, Techinssen und Jamuden, die die öden armen Gegenden bewohnen, wenig Vieh haben und sich von Raub und Überfall erhalten. Alle diese Völkergruppen bekennen sich zum Islam.
Drei Hauptsprachen werden gesprochen, jede von ihnen hat eine eigene Literatur. Dies ist erstens Usbeck – Türkisch, zweitens Tadschik oder Parssi, drittens Chiwesisch – Waalaht. Letzteres hat viel Ähnlichkeit mit dem Aserbadschan.
Nachdem wir so Land und Leute etwas kennen gelernt haben, kehren wir zu den Auswanderern zurück.Wir wurden von Baron von Kaufmann in Taschkent freundlich empfangen, und da wir nicht gerne über den Winter in der Stadt bleiben wollten, stellte er uns ein 25 Kilometer entfernt gelegenes aufgehobenes Regierungsgestüt zur Verfügung. Kaplanbeck hieß der in der Steppe gelegene, von Wald, Feldern und Gärten umgebene Ort. Hier befanden sich viele Wohnungen, die wir bewohnen durften, und wir konnten nach menschlichem Ermessen einen schönen Winter verleben. Doch es kam anders. Wir, d.h. der erste Zug, waren noch nicht lange in Kaplanbeck, als der Typhus unter uns ausbrach. Der zweite Zug aus ungefähr 20 Familien bestehend brachte schon den Typhus mit, als er einen Monat, später bei uns ankam. Sie fanden auch gute Unterkunft in Kaplanbeck. Auf der Reise starben schon fast alle kleinen Kinder. Hier griff der Typhus nun auf die Erwachsenen über. Bis zum Frühjahr 1881 mußten wir hier 24 erwachsene Männer begraben, ob auch Frauen und Mädchen gestorben sind, weiß ich nicht mehr. Der dritte Zug, der anfangs November mit ungefähr 30 Familien in Taschkent eintraf, überwinterte in der Stadt. Alle unsere Männer waren vom Militärdienst nun frei, doch verlangte die russische Regierung auch hier, daß unsere 15 – 20 Jahre alten Jünglinge ihre Militärzeit durch Forstarbeiten, wie Fällen und Pflanzen von Bäumen abdienen sollten. Manche stimmten zu, andere jedoch nicht, da sie auch im Waldanpflanzen eine Verknüpfung mit der Welt sahen, und waren daher gezwungen, weiterzuziehen. Die Zahl der Auswandererfamilien war nach und nach auf 170 gestiegen, von denen sich 100 für die Forst – Dienstpflicht bereit erklärten. Die übrigen 70 dagegen, worunter auch meine Eltern waren, hatten die Überzeugung, daß sie nichts übernehmen könnten. Wir mußten uns also mit unseren zwei Wehrpflichtigen zur Wanderung bereit machen. Mein Vater und noch ein Bruder wurden als Kundschafter gewählt, um bei dem Emir (Regenten) von Buchara um die Erlaubnis zur Ansiedlung zu bitten. Bald jedoch kehrten sie mit abschlägigem Bescheid zurück. Nun war es wieder jener oben erwähnte Bibelmann, der nach Buchara drängte, weil er in gewissen Schriften von Jung – Stilling gefunden habe, daß die Brautgemeinde Jesu Christi, das fliehende Weib oder wir Mennoniten, im Schohari – Sabis – Tale im bucharischen Gebiet einen Zufluchtsort finden würden. So brachen wir denn auf. Mit uns zog ein Dolmetscher, ein kirgisischer Mulla mit Namen Turgimbai, der den ganzen Winter über in Kaplanbeck mein Sprachlehrer gewesen war. Im Monat Juli, in der größten Hitze, brachen wir auf. In einen Fuß tiefen Staube, in dichte Staubwolken gehüllt, traten wir die Reise an. Es war eine schwere Aufgabe. Eine Erleichterung bot uns die Straße von Taschkent nach Tschinaß, die meistens mit großen schattigen Bäumen bepflanzt war. Die Strecke ist stellenweise von Sarten bewohnt, die aus den beiden Kanälen neben der Straße Wasser schöpfen, um den Staub zu dämmen. Überhaupt sind die Sarten und Tadschicken ein sauberes, intelligentes Volk. In Tschinaß setzte uns ein mohamedanischer Fährmann über den Syr – Darja, was ungefähr zwei Tage in Anspruch nahm. Jetzt lag vor uns die große sogenannte Hasretti – Isultaning – Tschulli, die in die Hungersteppe des heiligen Isultans, welche sich am linken Ufer des Syr – Darja von Süden nach Norden hinzieht und wohl 160 – 180 Kilometer breit ist. Es ist eine Steppe ohne jeglichen Hügel, ohne Wasser, ohne menschliche Siedlungen. Auf der Post- und Karawanenstraße berührten wir von Tschinas nach Dschisak bei Durchquerung dieser Steppe einige einsame Poststationen, die in 25 Kilometer Abständen lagen. Hier fanden wir dann zwei bis drei Brunnen mit bitterem oder salzigem Wasser. In dieser Jahreszeit wimmelt die ganze Steppe von Schildkröten, die wir oft mit unseren Wagen überfuhren. Nach mehrtägiger Fahrt gelangten wir nach Dschisack, einem hübschen Städtchen am Fuße einer Gebirgskette. Hier gab es frische Quellen und saftige Wiesen. Wir sowohl als auch unsere treuen Pferde waren vollkommen erschöpft und fanden hier einen Tag Ruhe und Erholung. In einigen tagen erreichten wir Samarkand, eine alte historische Stadt. Es befindet sich dort das Grabmal des großen mohammedanischen Eroberers Timur Chans (Tamerlans), das eine übergoldete Kuppel schmückt. Wir besuchten dann noch viele alte Moscheen und Medresses (mohammedanische Universitäten), in denen der Koran gelehrt wird. Etliche von letzteren sollen vor Mohammed christliche Kirchen gewesen sein. Hier starb einer unserer Männer am Typhus. Nachdem wir ihn begraben hatten, setzten wir unsern Weg fort, um die letzte russische Grenzfestung Katy – Kurgan zu erreichen. Wir passierten das Grenzdörflein Serabulak, dessen Einwohner Arabar sind, und gelangten auf bucharisches Gebiet. Nach überschreiten der Grenze gelangten wir zuerst in ein 1 Kilometer breites neutrales Gebiet. Der Grenzchef warnte uns vor unerlaubtem Überschreiten der bucharischen Grenze und sagte: „Wenn euch die Bucharen zurücktreiben, steckte ich eure zwei dienstpflichtigen Leute ins Militär.“ Auf dem neutralen Gebiet waren wir nun nach Aussage des Grenzchefs sowohl vor den Russen als auch den Bucharen sicher. Doch ungeachtet aller Warnungen zogen wir zum großen Staunen der Bewohner (Araber und Tadschiken) in das bucharische Gebiet hinein. Als wir ungefähr 15 Kilometer weit vorgedrungen waren, machten wir bei einem kleinen Marktflecken halt und lagerten uns.
Da erschien plötzlich eine Patrouille bucharischer Kavalleristen, die über unser dreistes Eindringen benachrichtigt waren und ließen unsere Hauptleute (Kist – Chandaas) zum Grenz – Beck bitten. Die Kavalleristen ritten auf sehr guten arabischen Pferden, deren Zaum und Sattelzeug mit Seide bestickt und reich mit Gold und Silber verziert war. Sie selbst hatten nicht Uniformen nach europäischem Muster, sondern waren mit Chalats (orientalisches Oberteil, eine Art Mantel – E.K.), langen seidenen, bis über die Knie herabhängenden Gewändern bekleidet. Die Farbe der Gewänder war hell und rosarot mit gelb untermischt. Um ihre Hüften trugen sie Gürtel mit Gold und Silber verziert. Der Offizier jedoch stach durch besonders prächtige Kleidung hervor. Er trug einen mit Edelsteinen geschmückten Gürtel, an welchem ein türkischer Damaszener Säbel hing, der von Silber und Gold strotzte. Auf dem Haupte trugen alle einen blenden weißen Turban. Mein Vater und ein Bruder wurden gewählt und ritten mit diesen Soldaten zum Beck. Hier wurden sie nach orientalischer Sitte freundlich und gastfrei aufgenommen und durften sich an einem überreichen Tisch laben. Dann übernachteten sie ruhig und wurden am anderen Morgen mit Geschenken, die aus zwei seidenen Chalaten bestanden, entlassen, nachdem sie Befehl erhalten hatten, zurückzureiten und das bucharische Gebiet zu verlassen. Mit diesem Befehl kehrten unsere Delegierten zurück und brachten unsere Leute in eine kritische Stimmung. Einige bestanden darauf, weiterzuziehen, dann sagten sie, da wir die Braut Christi seien, würde der Herr uns schon beistehen und den Feinden wehren. Mein Vater, einer von den Nüchternsten, deshalb auch von manchen als ein nicht geistlich gerichteter Bruder angesehen, setzte es doch durch, daß wir ins neutrale Gebiet zurückkehrten. Hier angekommen, warteten wir wochenlang auf eine offenen Tür, doch da sich niemand um uns kümmerte und wir an den fahlen Blättern den nahenden Herbst erkannten, wurde beschlossen, Erdhütten zu bauen und hier zu überwintern. Schnell war eine gerade Dorfstraße zubereitet, rechts und links wurden Baustellen abgemessen, durch Aufpflügen einer Furche gekennzeichnet und verlost. Nun ging es frisch an`s Bauen. Wir waren schon beim Dachbau, da erschienen jene buntröckigen Kavalleristen und trieben uns weiter nach die russischer Grenze zu. All unsere Arbeit war umsonst, doch wir ließen uns nicht entmutigen. Als die Soldaten weg waren, fuhren wir auf neutralem Gebiete 12 Kilometer südlicher von der Hauptstraße in ein einsames Gebirgstal und machten halt. Nach oben erwähnter Form wurde ein Dorf gegründet, Erdhütten ausgehoben. Hier störte uns niemand. So wurde es Winter, kalt und es lag ein Meter hoher Schnee. In unseren warmen Erdhütten saßen wir schön behaglich und der Winter konnte uns nichts antun. Doch diese Freude dauerte nicht lange. Bald hatten uns diese Buntröcke ausfindig gemacht und kamen in großen Scharen zu uns. Wir jedoch wollten bei dieser Kälte uns in den warmen Hütten behaupten und ließen uns garnicht stören. Dazu kam noch, daß die Mehrzahl behauptete: Dieses Tal ist der Bergungsort der Braut Christi, hier kann uns nichts passieren. Es kam aber anders. Nach vier oder fünf Belagerungstagen gingen die Buntröcke daran und rissen uns unsere Dächer über dem Kopf zusammen, und luden unsere Sachen auf bucharische Arbas (zweiräderige große Karren) welche die Soldaten aus der Umgebung zu diesem Zweck zusammengetrieben hatten. Ich wurde, als Sohn des Hauptmanns gebunden, auf einen Karren geworfen und fort gings in der großen Kälte. Wohin wußte ich nicht. Meine lieben Eltern mußten zusehen. Herzlich nahmen sie Abschied von mir. Meine Mutter gab mir als Geleitwort Matth. 28, 20: „Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.“ Dies Wort stärkte mich und so war ich ganz getrost und ruhig. Als jedoch die Kälte überhand nahm und ich mich der Fesseln wegen nicht bewegen konnte, bat ich die mich begleitenden Soldaten, sie möchten mich losmachen, daß ich mich warm laufen könnte. Dies wurde mir bewilligt. So lief ich denn neben den Karren her, bis wir in der Nacht in das arabische Dorf Serabulak kamen. Hier übergaben mich die Soldaten mit allen Sachen, die sie aus den Erdhütten genommen hatten, dem Dorfschulzen Aksakal, einem starken Araber, mit dem Befehl, mich gut zu versorgen und zu pflegen. Mir teilten die Soldaten mit, daß sie nun auch alle übrigen nach hier holen würden. Der Aksakal bemühte sich sehr um mich, versah mich mit den besten Speisen und wies mir ein warmes Bett an. Ich ließ mich auch gar nicht nötigen und als ich gegessen hatte, suchte ich mein Bett auf uns schlief sofort ein. Erst spät am anderen Morgen erwachte ich neugestärkt. Ich beherrschte damals die usbecktürkische Sprache schon ganz gut, jedefalls machte es den Sarten und Trabern dort viel Vergnügen, sich mir mir zu unterhalten. Der Dorfschulze hatte noch in derselben Nacht, als ich abgeliefert wurde, einen Eilboten zum russischen Kreischef in Katy – Kurgan gesandt mit der Meldung: Die Bucharen haben die deutschen Auswanderer in unser Dorf gebracht, was sollen wir mit ihnen anfangen? Der russische Kreischef erteilte den Befehl, daß die Bewohner von Serabulak alle nötigen Räumlichkeiten den Auswanderern für den Winter zur Verfügung stellen sollte. Im Laufe von drei Tagen brachten die Soldaten alle Auswanderern nach Serabulack und ich darf zu Ehren der Bucharen sagen, daß uns auch nicht ein Stück von unserer Habe fehlte. So waren wir nun auf russischem Gebiet, doch beunruhigte uns die russische Behörde nicht und wir konnten ruhig den Winter verleben.
Im Frühjahr 1882 teilte uns der Kreischef mit, daß es ihm durch die Vermittlung des Obergrenz – Generals Baron von Grottenhelm gelungen sei, den Chan – Fürsten von Chiwa zu beeinflussen, uns als Kolonisten aufzunehmen. Zuvor wurden jedoch etliche Brüder zu Kundschaftern gewählt, worunter auch mein lieber Vater war. Es gab damals noch kleine Eisenbahn, so stiegen sie dann zu Pferde und machten sich auf die 1000 Kilometer lange Reise. Nach drei Monaten kehrten sie mit der Überzeugung zurück, Chiwa sei der uns vom Herrn bestimmte Ort der einstweiligen Bewahrung. Nach ein paar Tagen der Ruhe für Kundschafter und Pferde begannen wir unsere Reise. Wir zogen zuerst durch die fruchtbarste Gegend Bucharas durch das Saraffschan – Tal, das sich ungefähr 300 Kilometer, an der Hauptstadt Bucharas vorbei, bis Karakul (Schwarzer See) erstreckt. Wir fuhren hier durch einen Garten Gottes. Das Tal ist 15 – 20 Kilometer breit und der üppigen Vegetation wegen dicht bevölkert. Hohe, schattige Bäume, Kanäle mit kristallklarem Wasser zu beiden Seiten der Straße machten uns die Fahrt durch die herrlichen Felder und Gärten sehr angenehm. Die Bevölkerung des ganzen bucharischen Chanats ist mohammedanisch und war zur damaligen Zeit den Europäern feindlich gesinnt. Man lehnte sogar eine Telegraphenanlage, die Rußland auf seine Kosten anlegen wollte, ganz entschieden ab. Wir wurden von der russischen sowohl wie von der bucharischen Regierung gewarnt, uns je einzeln zu zerstreuen oder allein auf die Märkte zu gehen. Auf Einwirkung der russischen Regierung hatte uns die bucharische Regierung eine 50 Mann starke Schutztruppe durch ihr Gebiet zur Verfügung gestellt, welche auch jedesmal für einen geeigneten Lagerplatz sorgte. Ohne besondere Zwischenfälle gelangten wir so nach Karakul (Schwarzer See) mit der Stadt gleichen Namens. Hier mündet der Saraffschan in den See. Alle Vegetation und jede Bevölkerung hatte hier ein Ende, denn vor uns lag die 150 Kilometer breite Karakum Wüste, die von hier bis zum Orus oder Amu – Darja sich ausdehnt. Hier nun mußten wir unsere Wagen auseinander nehmen und mit sämtlichen Habseligkeiten auf 400 Kamele packen, die uns freundliche bucharische Beamte besorgt hatten, denn die Wagen schneiden so tief in den losen Sand ein, daß man nicht fahren kann. Männer und Jünglinge bestiegen die Pferde. Frauen und Kinder wurden auf die Kamele gesetzt und fort ging der Zug durch die Wüste. Die Einteilung unseres Zuges beim Fahren war folgende: Voran ritt mein Vater mit mir als dem Dolmetscher, da ich den zweiten Winter in Serabulack tüchtig die mohammedanische Sprache gelernt hatte. Dann folgten die vielen Wagen, die Männer zu Pferde, die Frauen und Kinder im Wagen. Die Tagesordnung war genau eingeteilt. Bei Tagesgrauen wurde geläutet zum Aufstehen und Füttern der Pferde, nach einer halben Stunde wieder zur Morgenandacht, wo sich alle einfanden. Einer unserer Prediger gab ein Lied an. Dann wurde ein Abschnitt aus dem Worte Gottes verlesen, zum Schluß folgte ein Gebet und ein Lied. Dann eilte alles zu den Wagen, natürlich in der Wüste zu den Kamelen und es wurde gefrühstückt. Zum Aufbruch wurde wieder geläutet. Hier in der Wüste bewegte sich unser Zug Tag und Nacht langsam durch das Sandmeer. In Erinnerung ist mir besonders ein Lied, das in der Wüste besonders oft gesungen wurde, es lautet wie folgt:
1.
Unser Zug geht durch die Wüste
Zum gelobten Kanaan.
Seit Ägyptens Sklavenlüste
Sklavenelend abgetan.
Seit der Herr uns angenommen
Und zu Seinem Volk erkauft,
Seit wir seinen Ruf vernommen
Und in heil`ger Flut getauft.
2.
Unser Zug geht durch die Wüste,
Dennoch birgt sie manches Tal,
Wo ein Palmenhain uns grüßte,
Wo man lagerte einmal.
Und wo nicht mehr Palmen ragen,
Wo beginnt der heiße Sand,
Wird das Land doch Weiden tragen
An der schmalen Bäche Rand.
3.Unser Zug geht durch die Wüste,
Unser Zug geht durch die Wüste,
Zum gelobten Kanaan,
Wenn die Seele nichts mehr wüßte,
Weiß sie doch, es geht voran.
Ja, die Wolk`und Feuersäule
Saget dir, es geht voran.
Und Er hat uns aufgehoben
Unser Teil in Kanaan.
4.
Unser Zug geht durch die Wüste,
Doch auch in der größten Not,
Die nichts Irdisches versüßet,
Speist der Herr mit Himmelsbrot.
Will die Durstenden erretten,
Wenn der Fels verschlossen scheint,
Muß dem Kämpfen und dem Beten
Weichen auch der schlimmste Feind.
5.
Unser Zug geht durch die Wüste,
Gottes Volk verzage nicht.
Wenn Er kreuzigt unsre Lüste,
Wenn der Hochmut Er zerbricht.
Gibt es auch die schwersten Proben,
Sage dir, es geht voran,
Und Er hat uns aufgehoben,
Unser Teil in Kanaan.
Des Tages war die Hitze sehr groß und wir machten dann am Mittag eine mehrstündige Ruhepause. Die Pferde durften sich ausruhen und wurden sparsam getränkt mit dem in kleinen Fässern mitgenommenen Wasser. Unterdessen bereiteten uns die Frauen ein Mittagsmahl. Nach Beendung gings wieder weiter bis zur Abendandacht in ähnlicher Ordnung wie am Morgen.
Auch die Nächte waren hier in der Karakum Wüste sehr hell, da Vollmond war und außerdem damals ein Komet am herrlichen tiefblauen Himmel Turkestans stand und uns mit seinem langen Schweif, der drei Viertel des Sternenhimmels bedeckte, reichlich Licht spendete. Viele der Frauen und Kinder bekamen auf den hohen schaukelnden Kamelen die Seekrankheit, was für sie am Tage der großen Hitze wegen besonders beschwerlich war.
Wir waren den vierten Tag auf der Reise vollkommen ermattet, ebenso unsre treuen Pferde. Doch siehe da, unsere Pferde haben plötzlich die Köpfe, streckten die Nüstern empor und wieherten freudig. Wir sahen nichts, sie aber witterten das Wasser, das Wasser des Amu – Darja, unser Ziel. In vollen Zügen genossen wir kühle Wasserluft und streckten die müden Glieder unter den schattigen Bäumen zur Ruhe aus, während unsere Pferde sich am saftigen Gras der Wiesen labten. Des anderen Tages brachen wir auf und erreichten die letzte bucharische Ortschaft am Amu – Darja, Sldschik. Dies ist eine kleine Ortschaft mit Lehmhütten und etlichen kleinen Gärten, die aber im großen ganzen einen traurigen einsamen Eindruck machten. Hier erwarteten uns neun mohammedanische Frachtschiffe aus Chiwa, die auf Veranlassung des russischen Grenzgouverneurs von Fort Petroalexandrowsk, des Generals Baron von Grottenhelm geschickt waren, um uns die 640 Kilometer lange Strecke den Amu – Darja hinunter nach Chiwa zu bringen. Wir schifften uns also ein bis auf eine Anzahl Männer und Jünglinge, die ihre Pferde bestiegen und am rechten, russischen Ufer entlang ritten. Hier führte ihr Weg durch Urwald und Dschungeln, nur mühsam kamen wir vorwärts. Des Nachts wurden große Feuer zum Fernhalten der wilden Tiere unterhalten. Man legte sich nieder; doch das Geheul der wilden Tiere ließ niemanden zur Ruhe kommen. Dazu kam noch, daß niemand eine Flinte hatte, da wir ja alle das Waffentragen flohen. Nach neun Tagen kamen die zu Schiff und die zu Pferde wohlbehalten in Fort Petroalexandrowsk an. Baron von Grottenhelm kam uns mit seiner Familie sechs Kilometer weit entgegen und begrüßte uns auf`s freundlichste. Was für ein Wiedersehen, wenn Europäer sich hier in der Wildnis treffen! Standesunterschiede fallen gänzlich weg; unbekannte Menschen begrüßen sich, wie lang getrennt gewesene Verwandte. In Petroalexandrowsk blieben wir etliche Tage und versahen uns mit dem nötigen Proviant und Baumaterial, wie Nägel usw., denn dies war der letzte russische Ort. Von hier hatten wir noch 150 Kilometer bis zu unserem Bestimmungsort. Als alles besorgt war, schifften wir uns wieder ein; die Männer mit den Pferden ritten wieder am Ufer entlang.
Es ging, nebenbei erwähnt, unter uns sehr brüderlich zu. Die Bemittelten unterstützen die Unbemittelten, die oft schon ohne Geld von Daheim weggefahren waren oder in den zwei Jahren verarmt waren. Jedem Bemittelten waren darum nach Vermögen eine Anzahl Arme zur Verfügung gestellt, welche er zu versorgen hatte.
(Fortsetzung folgt.)
*)Die Mennoniten sind nach ihrem Reformator Menno Simons benannt und haben ihren Ursprung in Holland und Niederdeutschland. Auf Grund des Wortes weigerten sie sich, Militärdienst zu tun und Waffen zu tragen. Sie mußten deshalb oft ihre Wohnsitze verlassen und siedelten sich in den verschiedenen Ländern Europas an, wo ihnen eine Freistatt geboten wurde. Meine Vorfahren sollen aus der Gegend zwischen Amsterdam und Haarlem stammen. Von hier siedelten sie am Schlusse des 18. Jahrhunderts nach Marienburg, Westpreußen über. Als hier ebenfalls die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde, wanderten viele von ihnen nach Amerika oder Rußland aus. Meine Großeltern und Eltern wanderten 1850 nach Rußland aus und ließen sich am linken Ufer der Wolga im Gebiete von Samara nieder, wo ich im Jahre 1866 geboren wurde.