Reiseberichte aus Zenral-Asien in der Zeitung "Offene Türen" Nr. 3, März 1913, S. 11-16

 

Zugeschickt von Elena Klassen (Email), alle ihre Berichte.

 

Kopie der Zeitung "Offene Türen" Nr. 3, März 1913. (gotisch) von Viktor Petkau.

 

 

Zentral – Asien.
Taschkent, Russisch Turkestan.

Wieder liegt ein Jahr hinter uns und wir müssen bekennen, der Herr ist treu und wir sind zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die Er an uns erwiesen. Fernab von der Heimat und den Geschwistern kommt es uns erst recht zum Bewußtsein, welch einen wunderbaren Gott wir haben, dessen Verheißungen Ja und Amen sind. Ihm sei Lob und Preis und Dank und Ehre!
Vorerst sagen wir allen lieben Geschwistern, die uns durch ihre Fürbitte trugen und uns mit Liebesgrüßen erfreuten, herzlichen Dank. In der Heimat kann man gar nicht ermessen, welche Freude es für die Draußenstehenden ist, eine Karte oder einen Brief zu bekommen. (Spr. 25, 25!) Oft sehnt man sich nach Gemeinschaft und solche Grüße sind wie Lichtblicke auf dunkler Bahn; denn dunkel möchte man den Weg nennen im Blick auf die Arbeit unter den Mohammedanern, besonders denen im Russischen Reiche. Man fühlt sich an Händen und Füßen gebunden. Doch wir warten auf den Herrn, daß er zu Seiner Zeit die Türen öffnen wird. Mittlerweile nützen wir die Gelegenheiten am „Tage kleiner Dinge“ aus (Sach. 4, 10.) In Samara, wo wir über zwei Jahre waren, haben wir viel Liebe von den dortigen Baptistengeschwistern erfahren und das Abschiednehmen von dort wurde uns schwer. Als wir im Begriff waren, das Haus zu verlassen, kamen noch Patienten, trotzdem wir Stock und Hut beinahe in der Hand hatten. Eine ganze Anzahl Geschwister begleiteten uns spät abends nach dem Bahnhof, trotzdem es regnete und hielten tapfer aus, als wir trotz 3-tägigen Vorausbestellens der Fahrkarten keine Plätze erhielten. Niemand von den Reisenden kam an jenem Abend mit, da alle Klassen von Moskau her schon besetzt waren. Viele mußten auf dem Bahnhof bleiben bis zum nächsten Tag. Wir übernachteten mit unserm aus 24 Stück bestehendem Reisegepäck bei Geschwistern und fuhren am nächsten tage, den 20. August. Die Luft war durch den Regen abgekühlt und rein, was für die Reise durch die Wüste von großer Bedeutung war. Die Fahrt war ziemlich eintönig, Sand und wieder Sand, hin und her mitten in dieser Einöde Kirgisenzelte, Kamele, Pferde, Kühe und Schafherden, was besonders für klein Hannchen äußerst interessant war. Die Vegetation ist sehr kümmerlich und infolgedessen sind auch die Tiere sehr klein. Die Kühe sind etwas so groß wie bei uns ein Kalb. Wir fuhren ununterbrochen 3 ½ Tage von Samara bis Taschkent. Am letzten Tage der Reise, als wir uns Taschkent näherten, wurde es heiß und sehr staubig, und wir freuten uns, bald ans Ziel zu kommen. Einige Stationen vor Taschkent fängt mit einem Male eine üppige Vegetation an. Doch ist es recht sumpfig und riecht auch so, sodaß man am liebsten nicht atmen möchte. In Taschkent angekommen, wurden wir von einigen Geschwistern, die wir in Samara kennen lernten, empfangen. Wir wohnten bei einer Schwester in der Altstadt, wo die Sarten wohnen. Die Neustadt ist fast ganz Russisch. Die Stadt macht am Abend einen zauberhaften Eindruck auf uns Leute des Westens. Die Sarten in ihren bunten, phanatischen Gewändern saßen in den offenen Läden auf dem Fußboden auf Teppichen (Stühle haben sie selten) und tranken Tee. Sie hatten gerade ein 1 ½ Monate Fest; an dem sie tagsüber fasten müssen. Erst 7 Uhr abends, nachdem der Mullah (Lehrer) geschrieen: „La ilaha – illa – lluha; Muhammedu – Rasulu – àllah`!“ (Es ist kein Gott außer Allah; Muhammed ist der Apostel Gottes). – aßen sie zum erstenmal. Dann wurde es ganz still in den Straßen, aber nachher geht der Lärm aufs neue los und währt bis tief in die Nacht ninein. Wir fuhren mit der Pferdebahn in die Altstadt. Trotzdem sie schon überfüllt war, sprangen rechts und links sarten auf das Trittbrett. Der Kutscher oder Kondukteur schlugen sie wohl, und zu unserm Schrecken fielen einige von dem in voller Fahrt befindlichen Wagen auf die Straße in den Schmutz, (wegen der großen Hitze wird viel gesprengt), doch es schien ihnen nichts auszumachen, sie standen auf und versuchten es gewiß beim nächsten Wagen. Die Neustadt ist ganz modern gebaut; manche Straßen geben denen Berlins wenig nach, sie haben schönes Pflaster und modern eingerichtete Geschäfte. Die Stadt ist freundlicher als Samara. Zu beiden Seiten stehen hohe pappelartige Bäume, an denen das von den Schneebergen kommende frische Wasser vorbei fließt. Das Wasser wird von den Sarten sogar zum Trinken benutzt, sowie zum Reinigen der Wäsche und des Küchengeschirrs; denn das Brunnenwasser muß meistens bezahlt werden. Für uns ist es nicht gerade appetitlich, das Wasser aus den Gräben zu nehmen, wenn man sieht, was alles darinnen gewaschen wird und was die Leute alles hineingießen. Wir benutzen es nur zur Wäsche, weil es sehr weich ist. Das Klima ist ziemlich fiebrig; augenblicklich ist es feucht und kalt, viel Regen, ab und zu Schnee. Im November begann der Regen. Im Oktober war es noch heiß (ca. 30 Grad R..), des Nachts aber empfindlich kalt. Die Straßen, die zum großen Teil ungepflastert sind, sind fast unpassierbar, an manchen Stellen geradezu gefährlich wegen der Schlammlöcher und verfaulten Holzbrücken. Asiatischer Winter! In den alten Stadt waren wir 7 Tage. Wir fanden bald eine Wohnung für den namhaften Preis von R. 15.25 (etwa 32 Mk.) Sie ist außerhalb der Stadt gelegen und besteht aus 2 Stuben, Küche und Veranda. Obwohl sie in einem großen Garten liegt, scheint sie doch ungesund zu sein, besonders riecht es in der Schlafstube gegen Abend sumpfig und moderig, trotzdem Tag und Nacht die Fenster offen stehen. Daher kam es wohl auch daß wir alle nacheinander erkrankten. Hannchen begann mit Brechdurchfall, der ziemlich 6 Wochen anhielt und allen Mitteln zu trotzen schien. Sie wurde ganz mager und schwach und konnte kaum noch laufen. Drei Wochen nach unsrer Ankunft hier wurde uns ein gesundes, kräftiges Söhnchen geboren, das den Namen Siegrfied Immanuel erhielt. Als ich eine Woche im Bett lag, kam Bruder Kliewer krank in unsern Garten. Er hatte schon einige Tage mit hohem Fieber gelegen. Als er einen Tag hier war, kamen die Pocken zum Vorschein. Mein Mann half so gut er konnte, doch nach einer Woche erkrankte auch er und legte sich mit Fieber und Gliederschmerzen ins Bett. Ich dachte zuerst, es würde Typhus, der gerade hier herrschte. Aber der Herr half und nach 3 Wochen wurde es besser. Jedoch fühlte er sich noch eine ganze Weile schwach und unfähig zur Arbeit. Nachdem fing meine Schwester, die der Herr während der ganzen Zeit wunderbar aufrecht erhalten hatte, um uns zu pflegen, mit kränkeln an und mußte ins Bett. Dem Herrn sei Dank, wurde es auch mit ihr bald besser, obgleich sie sich noch jetzt schwach und elend fühlt. Man sagte uns, daß es fast allen Ausländern im ersten Jahr so geht und wir sind etwas beruhigt. In jener Zeit kam auch Schwester Herhold aus Nikolaipol mit einem epileptischen Knaben zu uns. Sie kurierte einen Monat hier. In der letzten Woche ihres Hierseins kam noch eine kranke Schwester aus Tiflis im Kaukasus und blieb bis Weihnachten bei uns. So gab es Arbeit genug. Seit einiger Zeit kommt ein Tatare zu meinem Mann, der schon bei vielen Ärzten vergeblich Hilfe suchte. Einige einfache Mittel, noch nicht einmal Medizin, hatten ganz wunderbaren Erfolg. Jetzt kommt noch seine kränkelnde Frau, die auch bei mir etwas kochen lernen will. Betet bitte, daß uns der Herr für sie zum Segen setzen möge; denn nur so können wir an die Leute herankommen.
Wie schwer es hier ist, zu arbeiten und wie vorsichtig man auch im Wandel und Benehmen sein muß, mag folgendes beweisen: Hier gibt es nur wenig gute Milch, fast alle Sarten machen Wasser und Mehl hinein, anstatt der Sahne, die sie abnehmen, schwimmt Hammeltalg oben drauf. Als Hannchen nach ihrer Krankheit mehr Milch brauchte, war trotz aller Bemühungen keine gute zu bekommen. Eines Morgens bat ich den Herrn ganz besonders, uns zu versorgen. Kurz darauf erschien ein Sarte mit guter Milch; ich wußte, der Herr hatte ihn geschickt. Er lud uns auch ein, die Kühe zu besehen. Wir gingen mit und lernten bei dieser Gelegenheit  ein sartisches Bauernhaus kennen, natürlich alles höchst einfach und primitiv, aber sauber. Besonders einladend war die Apfel- und Weintraubenkammer, wo wir auch kosten mußten. Mein Mann wurde sogar animiert, aus der großen Sartenpfeife einen Zug zu tun. (Sie rauchen ein Kraut, dessen Effekt noch stärker ist, als der vom Opium. Der Rauch wird durch ein langes Rohr, das in einem unterhalb der Pfeife, resp. des Pfeifenkopfes angebrachten Wasserbehälter mündet, gezogen. Das Ziehen ist sehr anstrengend, aber sie zun 1 – 2 Züge, dann stellen sie die Pfeife wieder weg.) Mein Mann lehnte natürlich ab. Dann wurden wir noch mit sartischem Brot, sehr saurer Milch mit Kümmel, Tomaten und Nüssen bewirtet. Wir verabschiedeten uns darauf. Von der Zeit an, brachte er uns jeden Morgen die Milch, ebenso unsern Nachbarn. Nun geschah es, daß unsere nächste Nachbarin, die den andern Teil des Hauses bewohnt, beim monatlichen Verrechnen Differenzen mit ihm hatte, und kurz und bündig, stolz wie die Sarten sind, brachte er ihr keine Milch mehr; ich bat ihn, er möchte ihr doch für ihr kleines Mädchen welche geben, umsonst. Einige Tage später erklärte er uns mit kurzen Worten (Russisch versteht er sehr schlecht), daß er uns auch keine Milch mehr bringen wollte. Ich erschrack und verstand ihn nicht recht, nur an seinem Gesicht sehen wir, daß er sehr böse auf uns war. Endlich bekommen wir heraus, daß die Nachbarin ihn „Sartischer Hund“ (für Moslems das ärgste Schimpfwort) genannt habe. Weil ich nun an jenem Morgen für die Nachbarin um Milch bat, dachte er wir seien ihre Kinder und haßte uns deshalb auch. Mir war weinen näher als alles andere, nicht weil wir keine Milch mehr bekommen sollten, sondern weil wir ihm ohne unser Wissen ein Anstoß sein sollten. Wir riefen ihn deshalb noch einmal zu uns und versuchten ihm klar zu machen, daß die Nachbarin nicht unsere Mutter sei und wir ihn auch nie Hund nennen würden, weil „Allah“ uns dies nicht erlaube. Ich fragte ihn, „Verstehst Du Bay (Herr)?“ Er sah uns mir einem traurigen Blick an und weinte ohne zu antworten. Es war eigentümlich, den großen starken Mann weinen zu sehen. Hetzt glaubte er uns, und als ich ihn fragte „Bringst Du morgen Milch?“ sagte er schluchzend „Daschtschih“ d.h. „Du bringst“ anstatt „ich bringe“.
Für uns in der Heimat mag die ganze Sache eine Lappalie sein, doch hier ist sie es nicht. Betet auch mit für diesen Mann! Sein Neffe hatte sich den Fuß verstaucht durch einen Fall. Arnika und kalte Umschläge halfen bald und am übernächsten Tag saß er schon wieder auf dem markte. Durch solche Glegenheiten kommt man mit dem Volk in Berührung; medizinische Kenntnisse öffnen den Weg dazu, um mit einzelnen zu reden, während an Versammlungen und öffentliches Reden nicht zu denken ist. Auch beim Einkaufen hatte mein Mann kürzlich Gelegenheit mit einem jungen Sarten über den Herrn zu sprechen.
Als wir in der alten Stadt waren, hatten meine Schwester und ich das Vorrecht, die Frauen des sartischen Gouverneurs zu besuchen. Ausländischer Besuch war ihnen etwas Neues. Ihr Leben ist ja so monoton und traurig, gleichsam als säßen sie im Kerker. Auf die Straße dürfen sie nur tief verschleiert gehen und die Männer zollen ihnen wenig Achtung. Die Obengenannten waren sehr nett und freundlich und bewirteten uns mit Tee, Obst und pfeffriger, doch guter Suppe. Die junge Schwiegertochter des Gouverneurs ist 14 Jahre alt. Sie zeigte uns ihre reiche Austattung, mit der sie für 30 Kamele und 500 Rubel an ihren 18 – jährigen Mann verkauft worden ist. Das reine Warenhaus: Porzellan, Silber, Gold, wohl mehr als 50 (meistens seidene) Steppdecken, seidene und samtene Kleider, darunter ein goldgewirktes. Sie hatte eine kindliche Freude, ans alles zu zeigen. Zuletzt kam der nach Tausenden zählende Schmuck aus kostbaren Steinen, und inmitten dieses Reichtums ein unglückliches, junges Menschenkind, ungeliebt von ihrem Mann, trotzdem sie so liebreizend ist. Sie putzten meine Schwester an mit einem seidenen Kopftuch, darüber das Diadem, dann die Ohrgehänge, Halsketten, Armbänder, Schultertäschchen und dergl. mehr, über alles einen weißen Schleier und um die Schultern ein fein seidenes Tuch. So gehen sie zu besonderen Festen. Meiner Schwester fehlte jedoch der gelbliche Teint, nebst schwarzen Haaren und Augen für solche Sachen. Da mein Mann nicht mit in das Frauenhaus durfte, sie aber wollten, daß auch er den Schmuck sehe, ging sie zu ihm, mußte dabei aben an dem Männerhof vorbei und wurde bemerkt. Sofort erschien der jüngere Sohn im Frauenhaus, um zu sehen, wer es gewagt hatte, so über den Hof der Männer zu gehen. Als er jedoch meine Schwester sah, ging er lachen davon. Zu Hause angekommen und im Begriff schlafen zu gehen, wurden wir durch Klopfen gestört. Ein kleiner Knabe erschien, faßte uns bei der Hand und führte uns wieder zu seiner Mutter. Die Frauen hatten erfahren, daß alle Männer ausgegangen waren und das Männerhaus leer stand. Dort im Salon war ein Piano, auf dem wir ihnen etwas vorspielen sollten. Daß die Haustüre verschlossen war, war für sie kein Hindernis, sie kletterten durchs Fenster und wir mußten wohl oder übel mit. Wir spielten und sangen ihnen einigen Lieder vor, z.B. „Bringt sie Heim“, „Der Sand der Zeit verrinnet“ u.a. Schließlich mußten wir doch nach Hause, es war spät, trotzdem es uns leid tat; denn sie freuten sich sehr über alles, setzten sich auf Stühle ans Klavier und hörten andächtig zu. Schade, daß sie die Worte nicht verstanden. Der Herr gebe, daß auch für diese armen Sartenfrauen bald eine andere Zeit hereinbrechen möge. Meine Schwester möchte gerne die jungen Sartenmädchen in allerlei Handarbeiten unterrichten, doch wir wissen noch nicht recht, wie es der Herr führt. Wir hörten der Zugang sei sehr schwer. Augenblicklich kann man vor Schmutz nirgends hin. In der Altstadt ist so viel Schlamm und Schmutz, daß die Pferde an manchen Stellen kaum durchkommen. So müssen wir geduldig warten. Gedenkt bitte auch dieser Sache fürbittend, damit uns der Herr leiten möge, und wir nichts beginnen, was Er nicht gutheißt.
Ein Bruder bat uns, im Zirkularbrief etwas über Klima, Lebensverhältnisse, Lebensmittel, Preise, Wohnungen u.s.w. zu schreiben. Letztere sind wie ich schon schrieb, sehr teuer. Unsre Wohnung würde in der Stadt auf 50 – 60 Mark zu stehem kommen. Dann darf man dort auch nicht zu Hause waschen, sondern muß alles in die Waschanstalt geben, was natürlich auch wieder recht teuer ist. In dem Hause, in dem wir jetzt wohnen, haben wir mehr Freiheit, brauchen auch das Wassernicht extra zu bezahlen. Der Brunnen ist direkt vor unserer Küche. Daß der Hof sehr schmutzig ist und ebenso die Straßen hierher, darf uns halt nichts ausmachen. Holz kostet 16,4 kg. 55 – 60 Pfg., dabei ist es bleischwer; es wird in der Wüste gefunden. Natürlich ist es kein solches Holz wie bei uns, sondern eine besondere, werkwürdige Wurzel von sehr spröder Beschaffenheit. Mein Mann hat das Holz mit großen Steinen zerschlagen. Eine recht mühsame Arbeit! Aber immerhin geht das Zerkleinern so noch schneller als mit Axt und Säge. Kohlen sind teuer und recht schlecht. Zum Kochen wird auch viel Petroleum verwandt, was auch nicht billig ist. Kleider, Kleiderstoffe und Wäsche sind meistens noch einmal so teuer als bei uns und dabei schlechter. Aller Schund vom Auslande wird hier als „ausländische Ware und letzte Neuheit“ angepriesen und teuer an den Mann gebracht.
Als Schwester Herhold hier war, gingen wir einmal zusammen einkaufen und haben uns nur immer über die Preise gewundert. Lebensmittel sind auch teuer, außer Fleisch und Obst. Das Brot ist manchmal fast ungenießbar, weil die Bäcker angegangenes Mehl verbacken. Die Preise sind dafür wie bei uns oder noch höher. Das Klima ist, wie ich schon erwähnte, fiebrig. Im Sommer steigt die Hitze bis 60 Grad R. und mehr. Regen gibt es vom Frühjahr bis Oktober gar nicht oder höchst selten. Als wir hier ankamen, war die größte Hitze schon vorüber. Wir vertrauten dem Herrn, daß Er uns fähig macht, das Klima zu ertragen. Betet für uns! Man muß sich hier an vieles gewöhnen, was uns zu Hause als „geradezu schrecklich“ vorkommt. Hier heißt es vielfach „Verleugne dich selbst“; der ausgeprägte deutsche Ekel macht hier wenig Geschäfte. Trotzdem sind die Sarten noch verhältnismäßig sauber. Die Kirgisen rechnen den Schmutz mit „lebendigem Zubehör“ schon mehr zu den unentbehrlichen Dingen. Manches muß man auch entbehren, wobei man erkennt, daß man doch noch recht viele Bedürfnisse aus der Heimat mitgebracht hat und Phil. 4, 11 – 12 noch viel zu wenig in der Praxis erfahren hat. Täglich aber dürfen wir Vers 13 und 18a erfahren. Er ist treu! und hält versäumt uns in keiner Weise. Ihm sei aller Ruhm und alle Ehre!
Für heute muß ich schließen. Seid alle recht herzlich gegrüßt von Eurer

A. V.

 

 

Herzliche Grüße auch von meinem lieben Mann und meiner Schwester.
3 Joh. 2, 15a.

Eine Reise vor 30 Jahren ins Ferghanagebiet im Osten Turkestans.

Das Ferghanagebiet ist ein ausgedehntes Gebirgstal von etwa 250 Werst Länge und 180 Werst Breite. Von drei Seiten von hohen Gebirgsketten eingeschlossen, deren Gipfel und Kamm mit ewigem Schnee bedeckt sind und nur nach Westen offen, wird es durchströmt von dem Hauptfluß des Turkestanischen Gebiets, dem Syrdarja, der aber im oberen Laufe Narüm (Naryn, Нарын – E.K.) heißt. Hier lagen vor der Einnahme durch die Russen zwei Chanate, Kokand und Narüm. Ersteres nahm das ganze jetzige Ferghanagebiet mit den Städten Kokand, Osch, Andischon, Mangelan (Margelan – E.K.), Namangan, der Festung Machram, Chodschent und überhaupt das Flußgebiet des Syrdarja bis zum Aralsee ein. Letzteres die Gebirgsgegend mit dem Narüm und um den See Issil – Tul (Issik – Kulj – E.K.).Was die Chane betrifft, so war ihre Herrschaft eine rein despotische und grausame, was sich besonders an der Art der Todesstrafen z.B. des Pfählens zeigt.
Die Eroberung dieser Gegend begann in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Taschkent wurde 1866 erobert, Samarkand (zu Buchara gehörig) 1873, Kokan 1875. Letzteres durch General Skobelew II (II?? – E.K.). Wenn irgend wo von den Sarten, so kann man von den Kokangen sagen, daß sie sich mit der Annexion durch Rußland nicht ausgesöhnt haben, die Russen hassen und zu Empörungen geneigt sind. Räuberbanden mit politischem Hintergrund waren deshalb nichts Seltenes. Der Hauptsitz der Verwaltung wurde nach der Einnahme Margelan (wahrscheinlich Neu - Margelan, heute Fergana – E.K.).
Dieser Gegend nun sollte im Herbst 1883 unsere Tätigkeit gelten. Da wir nunmit dem Arbakasch auf der ersten Reise so schlechte Erfahrung gemacht hatten, entschloß sich der Bruder diesmal nur mit Postfuhrwerk zu fahren.
Da die erste Strecke bis Chodschend schon durchkolportiert war, so durchfuhren wir sie schnell ohne Aufenthalt, hielten uns auch in Chodschend nur wenig auf, sondern wendeten uns nach Osten direkt auf Kokand zu. Wir passierten eine nicht große Wüstenstrecke mit Hügeln schwarzen Flugsandes. Als wir auf die Station Machram zufuhren hinter der Festung gleichen Namens, machte man uns aufmerksam, daß wir diese Strecke von 24 Werst möglicherweise den ganzen Tag über fahren würden. Hier war nämlich nach vorhergegangenen Regen infolge des salpeterlehmigen Bodens knietiefer zäher Schmutz, so daß er sich unter die Wagenachsen schob und das Vorwärtskommen fast unmöglich machte, zumal die Pferde abgetrieben und ihr Geschirr schlecht war. Doch brauchten wir nur 6 Stunden, mußten aber einigemal den Wagen verlassen und halfen schieben um an den schlechtesten Stellen vorwärts zu kommen. Wir waren jetzt dicht bei der alten Festung Machram und hörten, daß dieselbe nun ganz unbewohnt sei und nur 20 Mann Kosaken Besatzung habe. Wir wollten doch die wunderbare Stadt ohne Bewohner besehen. Es war ein eigentümlicher Anblick. Dicke massive Lehmmauern, in den Straßen Mauer an Mauer, Haus an Haus und alles leer. Wir trafen ein paar Kosaken, und sie zeigten uns das Haus, welches sie sich zum gemeinsamen Wohnort eingerichtet hatten. Wir durften auch bei ihnen einige Exemplare der Heiligen Schrift zurücklassen. Noch am selbigen Tage kamen wir abends nach Kokand. Kokand hatte außer der Poststation nur eine kleine von Russen gebaute Kolonie. Die ganze Verwaltung mit ihren Kanzleien hatte sich in dem umfangreichen, geräumigen Palast des ehemaligen Chans einquartiert.
Hier fand man außer den Kanzleien auch die Privatwohnungen der Beamten und Offiziere, den Offiziersklub, sogar einiges Militär war in den äußeren Schloßgebäuden einquartiert, auch Briefpost und Telegraph. Auf dem großen freien Platze dem Schlosse gegenüber, an dem sich auch das Stationsgebäude befand, wurde ein Schaffot mit zwei Galgen errichtet, an welchem Tags darauf zwei sartische Mörder gehenkt werden sollten. Wenn die öffentliche Hinrichtung als abschreckendes Beispiel für die Bevölkerung dienen sollte, so war der Zweck mindestens bei der sartischen Jugend nicht erreicht, denn eine ganze Anzahl Sartenjungen machten das Schaffot und die Galgenleitern zu ihrem Spiel – und Turnplatz, ohne daß sie jemand daran gehindert hätte. Welche Roheit dieser Jungen und welche Gleichgültigkeit seitens der russischen Behörden!
Am andern Tage versuchten wir zuerst im Schloß zu kolportieren, aus einem Hof in den andern; rund um Türen, rund um Schilder; Intendantur, Buchdruckerei, Schule u.s.w. Dann wieder ein Hof mit lauter Privatwohnungen. Ich kann mich nicht entsinnen, je eine bessere Hauskolportage gehabt zu haben, als in diesem Chansschlosse.
Als nun die für die Hinrichtung bestimmte Zeit herannahte, begaben wir uns beide in das alte Kokand, um unter der eingeborenen Bevölkerung zuarbeiten, das Schauspiel der Hinrichtung zweier Sünder zuzusehen, andern überlassend.
Dieses alte Kokand bietet ein eigentümliches Bild. da sitzen in ihren Verkaufsbuden alte, weißbärtige Männer, aber unter dem Barte eines jeden befindet sich ein Kropf von 8 – 9 Zoll Durchmesser. Jünglingen in Teebuden oder sonst wo, wenn es Bewohner der Stadt Kokand sind, fehlt auch ein faustgroßer Kropf nicht. Die Ursache dieser eigenartigen Erscheinung, ist das dortige Trinkwasser in dem Hauptkanal der Stadt.
Auch Kokand hat große Moscheen, die aber hinter denen Samarkands zurückstehen. Unweit der einen Hauptmoschee stellte ich mich einige Mal  mit meiner Büchertasche auf, so daß die Ein- und Ausgehenden an mir vorbei mußten, und bot ihnen Testamente an. Bald hatte sich ein Menschenkreis um mich gebildet, und 4 – 5 Neue Testamente waren in den Händen von Lesern. Viele gaben sie schweigend zurück und gingen ihres Weges, manche tadelten, daß das Buch und die einzelnen Kapitel nicht mit den Worten: „Bismillanrach manrachim“ begänne, d.h.: „Im Namen des allbarmherzigen Gottes“. Darauf antwortete ich: „Die Worte, die du sagst, sind gut, aber, du kannst sie ja auswendig. So sprich sie doch, sobald du ein Kapitel zu lesen beginnst“. Manchen  genügte dies und sie kauften. So verkaufte ich an diesem Platze 9 Neue Testamente. Auch in manch anderen Beziehunggab der Herr Gnade auf mancherlei Einwürfe zu antworten und auch das Blut Christi zu rühmen als alleiniges Sühnopfer für die Sünden der Menschen.
Östlich von Kokand in der Entfernung von 60 Werst befindet sich Margljan (wahrscheinlich Neu - Margelan, heute Fergana – E.K.). Die russische Stadt hat recht großartige Gebäude, nur soll der Bauplatz schlecht gewählt und oft von Wasser überschwemmt werden, daher die Stadt auch ungesund ist.
Hier war auch viel Militär, und wir teilten uns in die Arbeit bei den einzelnen Bataillonenund Truppenteilen. Mich traf u.a. das 20. Linienbataillon. Zunächst suchte ich dessen Kommandeur, Oberst von Strahlmann, einen Deutschen auf, der ebensowohl wie sein Bursche, ein Deutscher aus Lodz je eine Bibel von mir kauften.
Nun bat ich um die Erlaubnis in seinem Bataillon kolportierten zu dürfen, worauf er mich zum nächsten Tage in seine Kanzlei bestellte. Zur bestimmten Zeit fand ich mich mit gefüllter Büchertasche ein und fand das ganze Offizierpersonal des Bataillona anwesend. Den Adjutant des Oberst, ein junger Leutnant, der vorher unter Oberst Zerpitzky gedient, und bei ihm Liebe zu Gottes Wort gelernt hatte, wurde mir und der Sache des Herrn sehr nützlich. Er sagte: „Wir brauchen für das Bataillon mindestens 10 große Testamente mit Psalmen und 10 Bibeln und zwar von beiden je eines für die Offiziersbibliothek, für das Unterrichtskommando und für jede halbe Rotte.“ Der Oberst bestätigte die Bestellung; am folgenden Tage sollte ich die Bücher bringen. Aber auch jetzt schon wurde eine ziemliche Anzahl Testamente und Bibeln genommen. So kaufte auch der Kasnatschej (Rendant) des Bataillons eine russische Bibel. Außerdem wurde mir erlaubt das Bataillon durchzugehen und an die Mannschaften zu verkaufen unter Garantie der Feldwebel, mit deren Unterschrift sollte die Bataillonskasse mir das Geld verabfolgen. Das war mehr, als man erwarten konnte.
Auch die Kolportage in diesem Bataillon, der Bergbatterie und anderen Truppenteilen war recht gesegnet.
In Andischan war der „Woinsky Natschalnik“, Ortskommandant über das Militär ein eigenartiger und zugleich jähzorniger Mann, der da glaubte uns sehr entgegenzukommen, indem er eine kleine Anzahl Evangelien ohne Apostelgeschichte und Briefe für die Soldaten kaufte, dann aber jegliche Kasernenkolüortage streng untersagte. In Asch (Osch – E.K.) der östlichen Stadt konnten wir etwas mehr arbeiten. Hier war Tags zuvor eine Erderschütterung gewesen, die sich ziemlich weit erstreckt hatte, von uns in Andischan jedoch nicht bemerkt worden war.
Von bedeutenden Vorkommnissen auf dieser Reise ist nicht weiter zu berichten. Gesund und ohne Unfall kehrten wir zu den Unsern nach Taschkent zurück.
Wir hatten auch diesmal das Walten Gottes recht oft zu spüren gehabt.

F. Bartsch

   
Zuletzt geändert am 25 Mai, 2019