Bericht aus Taschkent, Turkestan aus „Echo“ in "Mennonitische Rundschau" vom 19. Juli 1893, S. 2

 

Zugeschickt von Elena Klassen (Email), alle ihre Berichte.

 

Kopie der Zeitung „Mennonitische Rundschau“ vom 19. Juli 1893, S. 2. (gotisch) von Elena Klassen.

 

 

Die Deutschen in Turkestan.

Aus Taschkent wird dem „Echo“ geschrieben:

Taschkent (wörtlich Steinstadt, in Wirklichkeit aber Lehmstadt), die Hauptstadt von Turkestan, wurde, was nicht allgemein bekannt sein dürfte, in der Nacht von 14. auf den 15. Juni 1865 mit Sturm genommen, eine Stadt von 120,000 Einwohnern (Sarten), durch 1700 Russen unter Tschernjajew`s Anführung. Mit der Hauptstadt fiel auch das ganze ungeheure Gebiet von Turkestan (über 600,000 engl. O.M. mit damals vier Millionen Seelen) den Russen in die Hände. Man schritt sofort zur Anlegung der russischen Stadt Taschkent, die gegenwärtig 20,000 Einwohner hat und eine der schönsten Städte ist, die ich je gesehen: die Stadt der goldenen üppigen Trauben, der immerblühenden Rosen - eine lachende Schönheit.
In diesem Paradiese leben 150 deutsche Lutheraner und 100 deutsche Katholiken. Ihrer Beschäftigung nach sind sie Gymnasiallehrer, Aertzte, Ingenieure, Architecten, Brauer, Bäcker, Wurstmacher, „Wehmütter“ und dergleichen. Die Lutheraner bauen gegenwärtig ihre Kirche und haben bereits ihren Pastor.
Leider giebt es unter den deutschen Stadtbewohnern kein einigendes Moment; ihr Leben läßt sich daher nicht besser kennzeichnen, als mit den Worten:
„Ein Jeder treibt sich an dem Andern rasch
und fremd vorüber
Und  fraget nicht nach seinem Schmerz.“
Ein bei Weitem erfreulicheres Bild bieten uns die deutschen Colonisten in Turkestan, deren es ca. 1500 (Protestanten und Katholiken) giebt. Von diesen sind besonders die Mennoniten der Erwähnung werth. Mit scharf ausgeprägter Besonderheit treten sie aus dem mohamedanischen Gemeinwesen heraus und bilden das fortschrittliche Element im Volksleben, während die Russen das conservative vertreten.
Außerordentliche Fruchtbarkeit des Bodens und der Umstand, daß jede Familie 20 Dessjatinen (etwa 55 Acres) Land vom Staate bekam, lud zur Einwanderung. So kamen denn vor elf Jahren Mennoniten hier an. Sie sahen bald ein, welchen außerordentlichen Gewinn überlegene Thatkraft und Intellegenz den Landstrichen abzuringen vermag, deren Bewohner den handelswerth ihrer Bodenerzeugnisse weder zu schätzen noch zu nützen wissen, legten sofort vier Colonien an, die gleich den Festungen Oberitaliens ein Viereck bilden, und bauten Bethäuser und Schulen und Wassermühlen.
Ackerbau und Viehzucht sind ihre Hauptbeschäftigung; andere Erwerbsquellen sind die Jagd, der Fischfang, vor allem aber der Handel mit Mehl, Kartoffeln, Käse, Butter, Eiern, Schinken und dgl.
Man sollte glauben, daß diese nie ruhende energische Thätigkeit  der deutschen Colonisten von stählendem Einflusse sei auf die russischen Colonisten. Mit nichten! Während diese faulen Fischesser dem Nichtsthun huldigen und Taschkent als Bettler überschwemmen, glaubt man in den deutschen Colonien auf jedem Hause die Inschrift zu lesen:
„Freudig trete hinein und froh entferne dich wider!
Ziehst du als Wand`rer vorbei, segne die Pfade dir Gott!“
Die Colonisten sind, wie ich von ihnen selbst gehört, mit ihrem Loose recht zufrieden, wenn es nicht an der belebenden Feuchtigkeit fehlte, an Bewässerung. Der hier lebende russische Großfürst, Nikolai Constantinowitsch, Turkestans Wohlthäter im vollen Sinne des Wortes, hat zu diesem Zwecke Hunderttausende von Rubeln geopfert, leider aber wurde seine Edelmüthigkeit nicht mit dem gewünschten Erfolge gekrönt. Würde Turkestan gehörig bewässert, es wäre einer der fruchtbaren Landstriche der Erde.
Was schließlich die deutschen Colonisten Turkestans noch besonders auszeichnet, ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit unter ihnen, das leider unter den russificirten Deutschen Taschkents fast ganz erlosch.
(Was sagen unsere aus Turkestan eingewanderten Leser zu dieser Schilderung? – Anm.d. Rdsch.)

   
Zuletzt geändert am 11 April, 2019