Brief von E. Riesen aus Turkestan in der "Mennonitische Rundschau" Nr. 14, vom 2. April 1902, S. 1-5

 

Zugeschickt von Elena Klassen (Email), alle ihre Berichte.

 

Kopie der Zeitung „Mennonitische Rundschau“ Nr. 14, vom 2. April 1902, S. 1-5. (gotisch) von Elena Klassen.

 

 

Aus mennonitischen Kreisen.
Ein dunkles Kapitel in der Geschichte unseres Volkes*)

Schon geraume Zeit hat mich der Gedanke bewegt, wieder einmal etwas über das Befinden unsers Gemeindleins, das, entfernt von allen großen Verkehrsstraßen der Welt, im verschlossenen Chiwa, am Rande der Wüste, nun schon bald 20 Jahre sein eigenartiges Leben hat fristen dürfen, zur allgemeinen Kenntnis zu bringen. Die Befürchtung, daß ich der Aufgabe eines der Sachlage und der Wahrheit auch ganz entsprechenden Berichts kaum möchte gewachsen sein, hielt mich bisher davon ab, da ich aber früher schon einige Male und auch jüngst wieder dazu aufgefordert bin, so will ich diesen Wünschen entsprechen, und bitte die Leser um liebevolle Nachricht und brüderliche Zurechtstellung des von mir unrichtig oder zu einseitig Aufgefaßten.
Ich will zu der Schlußbemerkung des sel. Aeltesten U. hege von „die Münsterschen Wiedertäufer und die Altevang. Taufgesinnten“ noch etwas bemerken: Die Aufgabe, welche die alte Gemeinde Christi zum Aufbau des Reiches Gottes auf Erden zu lösen hat, ist noch nicht erfüllt. Wenn nun auch unter äußerlich unscheinbares Häuflein auch auf uns ganz nahestehende Herzen den Eindruck gemacht hat, als hätte es eine diesen Worten ganz entgegengesetzte Arbeit getrieben, so kam das nur daher, daß wir selbst, und vielleicht andere einen Umstand in unserer Sachlage nicht im rechten Lichte zu erkennen vermochten, um ganz klar zun sehen. Doch davon später. Daß wir speziell hier und dann auch der andere Auszugszweig in Aulie – Ata eine Aufgabe gehabt und noch haben am Aufbau des Reiches Gottes, will mir immer klarer werden. Gott sei Alles  in Allem.
Um der Sache mehr Klarheit zu geben, werfe ich einen kleinen Rückblick auf die Entstehung unserer Bewegung nach Asien. Es war im Jahre 1875 als bekannte Prediger B. Harder aus der Molotschna Sr. Excellenz von Totleben, der vom Kaiser wegen veränderter Stellung der Mennoniten im russischen Reich und der dadurch verursachten Bewegung nach Amerika dorthin gesandt war, unter anderem ungefähr so sagte: „Es werden aber immer solche sein, die den Dienst, mag er ausfallen, wie er will, nicht übernehmen werden, und wenn sie Hab und Gut und Leben verlieren sollten, nicht aus diesem oder jenem Grunde, sondern allein um des Herrn willen.“ Und sich auf das Wort der Weissagung stützend hinzufügte, daß Rußland diesen hoffentlich ein Asyl gewähren würde. Darauf habe Totleben auf Taschkent gedeutet, doch aber auch diesen Gedanken der dortigen Zustände wegen gleich wieder zurückgenommen: daran könne für jetzt noch nicht gedacht werden. Dasselbe betreffend, äußerte er sich einige Zeit später einer Deputation in Petersburg gegenüber: „Wer weiß, was nicht in einigen Jahren alles geschehen kann.“
In diesem oben angedeuteten Sinn hatten sich an der Molotschna seit jener Zeit  (1875) eine kleine Gemeinde aus 40 – 50 Familien bestehend, aus den verschiedenen anderen Gemeinden gesammelt. Diese hatten ihren Blick nach dem Kaukasus gerichtet. Gleiche Gedanken haben auch unsern lieben Ohm Johann Toews (bereits heimgegangener Aeltester bei Saratow an der Wolga) veranlaßt, folgende Mahnung schriftlich unserm Lehrdienst einzureichen: „Teure Brüder! Auf daß Ihr des Gewissens verschonet. 1. Kor.10, 28. Wir haben mit Gottes Hilfe eine Beständigung versucht mit unsern Glaubensbrüdern an der Molotschan, auch bei uns, ob eine Krankenpflege unter Militärkranken jeder Art in Kraft der Samariterliebe, ohne Beihilfe des Wehrgesetzes oder irgend einer gesetzlichen Kraft, in Schranken unseres Bekenntnisses zustande zu bringen sei. Wir haben aber gefunden, daß unsere Gemeinde diese Kraft, die freiwillige Samariterliebe, in sich nicht hat. Soll nun die Triebfeder zu diesem Dienst das Wehrgesetz oder sonst eine gesetzliche Kraft sein, so sind unsere Gemeinden wehrpflichtig oder werden es in kurzer Zeit. Da nun noch unter denen, die im Wehrgesetz diesen, eine Grenze ziehen, ist erstens nicht gerechtfertigt, weil vom kleinsten Dienst im Wehrgesetz bis zum höchsten alles zusammen eine Organisation ist, und dann ist auch der Weg offen in den vollen Waffendienst, was wir bei dem Erkalten der ersten Liebe in den Gemeinden nicht wehren können. Davon haben wir ein Beispiel in Preußen. Darum meine Bitte an alle lieben Brüder in allen Gemeinden: Wenn eine Deputation nach St. Petersburg geschickt wird, ob sie bei Sr. Majestät die Gnade erlange, alljährlich ein gemeinsames Schutzgeld zu zahlen. Wir verpflichten uns gerne, Dienste zu leisten wie im Krimkriege; auch wollen wir bei Kriegszeiten gerne Liebesgaben für die verwundeten Krieger sammeln. Ein bedeutender Teil bei der Molotschna und auch hier kann nicht weiter gehen. Das soll aber auch bis aufs Aeßerste durchgeführt werden, um denen keine Gewissensschmerzen zu machen, die nicht weiter gehen können, und Sr. Majestät wird der Herr das Herz lenken, und wird die Bitte gnädig annehmen. Kommen nun die Deputierten nicht durch, so werden sie um ein Asyl bitten, wo sie im wehrlosen Bekenntnisse ihres Glaubens leben können in Sr. Majestät großem Reiche. Die dann weiter gehen können, haben dabei nichts verloren. So wahren wir brüderlich eines jeden Gewissen und bleiben zusammen in der Liebe.
Gez. Johann Toews.“
Das war im Jahre 1874. Doch beruhigte sich unsere Gemeinde an der Wolga soweit, daß es fast schien, als würden wir uns in das neue Stadium, in das unser Bekenntnis gekommen, wenn auch nur vorläufig, fügen können, wie aus dem Nachwort meines heimgegangenen teuern Lehrers M. Klaaßen, das ich jedenfalls noch in einigen von ihm herausgegebenen Kirchengeschichten finde, zu sehen ist. So waren wir wohl schon in die zweite Hälfte des Jahres 1878 gekommen, als der Herr durch den alten Br. Korn. Eall, der jetzt bei Aulie – Ata ist, die Gemeinde aufs neue zu ernstlichen Fragen nach Gottes Willen anregte.
Auf die Ueberzeugung hin, daß er seine Söhne nicht in den Dienst geben dürfte, fühlte er sich gedrungen, nach der Molotschna zu fahren, um zu sehen, wie man da zu dieser Sache stehe. Ihn begleitete der vorhin erwähnte Lehrer M. Klaaßen. Da fanden sie auch bald die neugesammelte Gemeinde des Aeltesten Abraham Peters, konnten da aber nicht recht vertraut werden, weil man bei uns im Kaukasus einen Zufluchtsort nicht finden zu dürfen glaubte, und auf der andern Seite wohl auch noch andere Vorurteile obwalteten. Der Mensch denkt und Gott lenkt. Die Brüder dort besannen sich. Ohm Peters mit Bruder mantler (ebenfalls Prediger) folgten den Unsern fast auf dem Fuß, gaben auch bei uns in den verschiedenen Abendstunden durch zwei schlichte aber kräftige Klarlegungen unsers Bekenntisses der Sache einen kräftigen Schub. Bald wurde in aller Einmütigkeit bis allerhöchsten Orts hinauf gewirkt. So trafen unsere Deputierten gelegentlich auch den General – Gouverneur Kaufmann von Taschkent. Der lud sehr ein zur Uebersiedlung unter Verheißung völliger Freiheit, so lange er lebe. Es wurden zwei Deputierte hingeschickt, und unser Auszug nach Taschkent in Mittelasien stand fest.
Unterdessen trat aber etwas ein, was dem ganzen Wesen der klaren und einfachen Auszugssache ein völlig neues Gepräge gab. Dem nun Folgenden möchte ich 2. Cor. 11, 13 – 15 zu Grunde legen. Schon einige Zeit hat Klaas Epp bei uns mit großem Eifer und Aufopferung vielen Geldes in der sogenannten Reichssache gewirkt. Wer kennt nicht das größtenteils von ihm verfaßte Buch: „Die entsiegelte Weissagung“? Hatte er anfänglich auch mehrfach entschieden ausgesprochen, daß wir zu bleiben hätten, so wußte er nun doch die nicht mehr aufzuhaltende Bewegung unter seinen Einfluß und in das Geleise seiner Ideen zu bringen. Durch sein entschiedenes Auftreten war er bald Herr der Lage. Nicht durch ruhiges Weichen suchten wir den Anforderungen des Zeitgeistes zu entgehen, sondern durch andersdenkende tiefverletzende Handlungen und durch lieblose, aburteilende Aussprüche – vielfach der heil. Schrift entnommen - wurde der Sache sehr geschadet, viele gute Keime erstickt, ohne Ursache Wunden geschlagen, von denen heute noch nicht alle geheilt sind. Ohne den wichtigen Schritt durch allseitiges Prüfen zur Reise kommen zu lassen, wurde eine Auszugsgemeinde zusammengebracht. Die nun nicht zurückbleiben und mit den alten Gemeinden den Bund mit den Reichen dieser Welt eingehen wollten, mußten sich wohl oder über ihr anschließen. Eine Familie, die es nicht vermochte, hatte unterwegs schweren Stand. Nun ging es an ein Abräumen althergebrachter Sitten und Gebräuche (im Gegensatz zu der Geschichte der Rechabiten in Jer. 35, die uns der alte Ohm Peters mehrmals als Aufmunterung vorgehalten) und sogar direkter Befehle des Herrn, daß viele und auch ich manchmal stutzig geworden. Aber es fanden sich wieder andere Schriftworte und das ernste, alle Zweifel niederzwingende Auftreten Klaas Epps und der alten Brüder, die er so ganz unter seinen Zauber brachte, welches dann wieder ängstliche Gemüter beruhigte. Heute nach über zwanzig Jahren sind es noch wohl acht oder neun Familien, die er über das Wort Christi und seiner Apostel hinausgeführt, mit seinen persönlichen Offenbarungen und Verheißungen zufriedenstellt. Doch ich gehe zurück zu unserm sog. „Trakt“. Einen Aeltesten hatten wir in der Folge nicht mehr nötig, war doch die Zeit gekommen, daß sich der Herr seiner Herde selbst annehmen wollte Hes. 34. Selbst die Prediger wurden durch solche und ähnliche Worte aus ihrer Stellung herausgedrängt. Ein später hinzutretender, sogar seines Predigtamts entsetzt, weil zur Apostelzeit die Priester aus dem Judentum doch auch nicht als Prediger ins Christentum überraten (Also religiöse Anarchie! Ed.) Die Mission war auch überflüssig, weil dadurch ja nur „zwiefache Kinder der Hölle“ gemacht wurden, Matth. 23, 15. Das sich unter Glaubensgeschwistern von selbst machende „Du“ wurde in einer Weise eingeführt, daß viel Gotteskindern nicht ziemende Rohheit, mit einzog, zumal auch zweifelhaftes Element mit eingedrungen war. Es fielen Schranken, die jedenfalls bis ins Himmelreich reichen werden. Doch da hieß es denn: Her. 31, 21 „Richte dir auf Grabzeichen, setze dir Trauermale“ dem Alten nämlich. Auch Christi Person blieb schon vor unserm Aufbruch nicht ohne Anfechtung, war es auch nur noch vorübergehend, so zeigte sie doch im ersten Zuge schon böse Früchte. Das direkte Anbeten des Heilandes sollte nämlich nicht stattfinden sein. Die Folgen der weggeschobenen Ordnungen zeigten sich denn besonders verderblich in unserm letzten und größten Zuge. Als sich mehrere Brüder gedrängt fühlten, Epp darüber Vorstellungen zu machen, ob wir nicht irgendwie – besonders in der Art und Weise des Fahrens selbst – möchten Ordnung schaffen, hieß es, daß der Herr die „freie Liebe“ haben wolle; was im Menschen sei, müsse alles offenbar werden. Dabei fuhr er fort, uns reichlich mit neuen Offenbarungen zu ködern, die schon gleich anfangs ein Bruder ganz richtig mit 5. Mose 18, 22 gemessen hatte. In der Stadt Taschkent, wo wir über Winter lagen, rüttelte er zum ersten Mal ander Weihe des Weihnachtsfestes, indem den Kindern bei der Feier des Christabends keine Geschenke gegeben werden sollte. Hier war es auch, wo unser Häuflein durch innere und äußere Reibereien soweit kam, daß ein Theil gerne der Einladung, der von Taschkent und Aulie – Ata zur Ansiedlung aufbrechenden Geschwistern folgte. Dort war es unterdessen auch Dank den vielen und umfangreichen Briefen Klaas Epps zur innern Trennung gekommen.
(Fortsetzung folgt.)

*) Die Ueberschrift zu diesem Artikel stammt nicht vom Schreiber des Artikels, sondern vom Editor dieses Blattes.
   
Zuletzt geändert am 7 April, 2019