Zentral – Asien.
Nikolaipol, Postamt Aulie – Ata
Asiatisches Russland, 17/30. Mai 1910.
Wir (Bruder Bohn, meine Familie und ich) sind alle wohlauf und munter.
Der Herr hat sein Verheißungswort: „Siehe, ich bin bei Euch alle Tage“ treu gehalten. Wenn man dann bewußterweise alles aus Seiner Hand nimmt: Gesundheit oder Krankheit, Ueberfluß oder Mangel haben, geehrt oder verachtet werden, so ists ein Leben der Ruhe und des Friedens. – Als wir noch in der Schule in Greenwich weilten und wir uns einst, wie es öfters geschah, über unser bevorstehendes Ausgehen nach Turkestan unterhielten, wurde auch die Art und Weise unserer Versorgung resp. Unterhaltung daselbst berührt. Wir kalkulierten: Wenn der Herr, dem wir uns zur Verfügung gestellt, uns dorthin sendet, wird Er gewiß imstande sein das Geringere (uns in materieller Hinsicht zu versorgen) zu tun, da er doch Absicht hat Größeres (Bekehrung der Moh.) zu tun. Wir haben uns nicht geirrt. Der Herr hat uns bis jetzt alles zukommen lassen, was wir bedürfen. Dies soll uns zugleich eine Bürgschaft dafür sein, dass er auch das Größere tun wird.
Ein scheinbar „Großes“, das der Herr allein ausführen kann, bringt uns oft auf die Knie vor ihm. Wie ich Ihnen schrieb, ist Bruder Bohn noch nicht im Besitze des russischen Passes und damit auch des Aufenthaltsrecht in Turkestan. Wir haben unter den Deutschen Feinde, die uns bei der Behörde verdächtigt haben. Bruder Bohn`s Paß kam im März ungewechselt an, mit einer wiederholten Erkündigung über seine Person. Obwohl ihm das beste Zeugnis von seiten der Deutschen ausgestellt wurde, ist bis jetzt der russische Paß nicht erschienen. Nun schrieb ich für ihn in dieser Sache eine Bittschrift an den Gouverneur des Gebiets, wo wir wohnen. Wir denken, daß es sich nun bald entscheiden wird. Es würde mir, ja uns allen sehr leid tun, wenn Bruder Bohn uns verlassen müsste. Ich kann es fast nicht denken, dass der Herr solches zulassen sollte. Daher liebe Brüder, helft beten, daß der Herr, sich hier erweisen wolle, als der, dem alle Gewalt gegeben und der auch dieses „Große“ tun kann. Wie würden alsdann unsere Herzen jubeln und frohlocken! Aber wir wollen uns auch ergebungsvoll beugen, wenn Er es zulässt, daß Bruder Bohn von uns weggeschickt wird. Sein Weilen und Wirken hier ist nicht vergeblich gewesen. Nun des Herrn Wille geschehe! Gegenwärtig ist Bruder Bohn in die Berge geritten, um sich einen Ort anzusehen, wo er, unter den Kirgisen lebend, Sprachstudium treiben will.
Zum Osterfest machten meine liebe Frau und ich in Gemeinschaft mit einigen anderen Geschwistern eine Besuchsreise nach einer 250 Werst ca. 36 d. Meilen, von hier entfernten Ansiedlung am Fluße Tschu, wo einer meiner Schwäger wohnt. Bruder Bohn besuchte diese Ortschaft im verflossenen Jahr. Der Weg dorthin führt über Aulie – Ata durch eine Wüste. Nach Aulie – Ata ließen wir uns fahren. Da in der Wüste viel Sand ist, mussten wir den größeren Teil unserer Reise, 180 Werst, zu Pferd machen. Nach einem 4 ½ tägigen Ritt kamen wir ans Ziel. Das uns begleitende Kamel, welches unsere Kleider, das Futter für die Pferde und andere notwendige Reisesachen tragen mußte, bereitete uns den ersten Tag viel Versäumnis. Wohl die etwas zu schwerer Last und eine gute Portion Eigensinn brachte es dahin, daß das Kamel das Liegenbleiben dem Gehen vorzog, trotz der Züchtigung, die ihm von mehreren Händen erteilt wurde. Da es am folgenden Morgen auf dem durch des Nachts gefallenen Regen erweichten Boden immer wieder ausglitt und fiel, dingten wir uns einen Treiber mit seinem Kamel auf 1 ½ Tage, wodurch das unsrige nun das Vergnügen hatte, fast unbeladen zu folgen. Nun hatten wir mit unserem Kamel keine Schwierigkeiten mehr. Die Wüste hatte mir manches Lehrreiche mitzuteilen. Schon der trockene Sandboden und die sengende Hitze versinnbildlichen die Dürre unseres Glaubenlebens, die Hitze, welche uns zu Zeiten begegnet. Es war eine Wohltat für uns, dass im Laufe der ersten Tage die Wolken uns Schutz vor dieser Hitze boten, und ist es nicht angenehm zu ruhen im Schatten des Allmächtigen? Die auf dürrem Sandboden massenhaft blühenden blauen Lilien predigten mir: Wenn Du Dich auch in einer moralischen Wüste befindest, sorge nicht, denn auch diese zeitigt Blüten von ungeahnten Werte. Dann waren es wieder die großen Grasflächen, welche uns freundlich einluden zu lagern. Wenn diese einen Brunnen mit gutem Trinkwasser aufzuweisen haben, dann ist es für Reiter und Pferd verlockend oder erwünscht, der freundlichen Einladung Folge zu leisten. Wohl trifft man in der Wüste viele Seen, aber sie enthalten meistens ungenießbares Wasser. Wie angenehm die „Elims“ auf unserem Glaubenswege sind, was für eine Erquickung sie uns bieten, um auch beim Passieren der „Maras“ nicht erschöpft niederzusinken, davon weiß jedes erfahrene Kind Gottes zu erzählen. Auf dem letzten Teil unserer Reise trafen wir wohl Brunnen mit Trinkwasser, aber keine Grasfläche mehr an. Da war es doch gut, daß die Säcke noch einen Vorrat an Hafer aufzuweisen hatten.
Schließlich durchquerten wir einen 40 Werst (ca. 6 deutsche Meilen) breiten Wald, welcher nicht aus Nadel- oder Laubbäumen besteht, sondern das hier sogenannte Sackfaulholz liefert. Dieses ist ein vortreffliches Brennmaterial. Die Länge des Waldes soll 300 Werst betragen. Er nimmt einen Flächenraum von 1,200,000 Deßjatinen ein, und birgt in sich einen großen Reichtum, welcher aber nur zum kleinsten Teil ausgebeutet wird. Vermittelst einer Eisenbahn könnte es in die an Brennmaterial armen Gedenken versandt werden, während jetzt viel Holz nutzlos am Boden liegt und unter Einwirkung der Witterung verdirbt.
Die Bewohner der Wüste sind die Kaisacken, welche sich ausschließlich mit Viehzucht beschäftigen. Hauptsächlich halten sie Schafe und Ziegen, da hier ein struppiges Kraut wächst, das diese gerne fressen. Auch Kamele werden gezogen, ebenso Pferde, wo es der Weide halber möglich ist. Wir besuchten die Wüstensöhne in ihren Zelten. Man bemerkte an ihnen die altertümliche Gastfreundschaft. Doch sind sie stockfeste Mohammedaner, welche sich gegen das Evangelium noch verschließen. Einer ihrer Mullahs las wohl im Jyil (Evangelium) und dem Traktat, welchen Bruder Abr. Janzen übersetzt hat. Als aber ein anderer hinzutrat hieß es: Lies es nicht, das ist nicht für uns. Am Karfreitag, den 16/29. April erreichten wir unser Ziel. Der letzte Marsch war ziemlich anstrengend, da wir die letzte Nacht nur 1 ½ - 2 Stunden geschlafen hatten. Daher suchten wir unsere müden Körper durch einen mehrstündigen Schlaf zu erquicken. Um 5 Uhr abends fand eine Versammlung statt, in der ich über den Wert des kostbaren Blutes Jesu sprach, anschließend an 2. Mos. 12, 23. Ebenso durfte ich in einer Versammlung am folgenden Tage um dieselbe Zeit über die Sicherheit und Gewißheit der Erlösung durch Christum sprechen. An den Vormittagen der Ostertage bildete der „Auferstandene“ das Thema der Predigten, während an den Nachmittagen „die Botschaft von Golgatha“ an Hand der Schrift gemeinschaftlich betrachtet wurde. Auch die lieben Kleinen versammelten sich jeden Feiertag nach dem Mittagessen zum Kindergottesdienst, und Jesus erwies sich auch hier als der segnende Kinderfreund. Dann besuchten wir fast jede Familie in ihren Hause und sprachen mit ihr über ihre Stellung zu Jesu. Mit Freuden und Dank gegen Gott wurden wir erfüllt, als wir merken konnten, dass Gott durch die Verkündigung Seines Wortes die Leute zu tieferer Selbstprüfung gebracht hatte. Auch hatte ich die Gelegenheit, mit einem nach Errettung verlangenden taubstummen Mädchen zu sprechen, Gottes Wort zu lesen und zu beten. O, das Kind tat mir leid! Da sie mehrere Jahre die Taubstummenanstalt in Tiege – Molotschna besucht hat, kann sie sprechen und lesen. Nachdem ich am Vormittag des nächsten Sonntags noch einmal mit dem Worte gedient hatte und nachdem am Nachmittage meine Frau und ich Sonntagsschule mit den Kindern gehalten hatte, wurde noch eine Abschiedsrede gehalten. Am folgenden Montag ging es zurück. Wohlbehalten kamen wir ohne jeden Zwischenfall durch Gottes Gnade am Freitag Vormittag in unserem Heim an.
Zurückgekehrt von dieser Reise, fand ich von Bruder C. Kliewer – Chiwa eine Karte unter meinen Postsachen, welcher seinen baldigen Besuch hier meldete. Da die von ihm bestimmte Zeit seiner Ankunft herannahte, dachten wir jeden Tag an ihn, aber statt seiner kommt eine zweite Karte mit der Mitteilung, daß er sich auf 2 Monate eine Wohnung in Taschkent genommen habe. Ein Brief aus Chiwa an einen der Deutschen hier berichtet, daß Bruder Kliewer dort nicht länger bleibe. *)
Unser Gesundheitszustand ist, Gott sei Dank, ein guter. Der Herr gibt jeden Morgen neue Kraft, sowohl physische wie geistige, die wir nötig haben. Meine liebe Frau hat recht viel Arbeit im Hauswesen zu verrichten. Unsere beide Söhne sind auch munter und froh, in der gesunden Bergluft sich aufhalten zu können. Bruder Bohn ist dieses Jahr gesünder als im vorigen Jahr. Es ist diese Tage ziemlich heiß gewesen. Infolgedessen ist auch reichlicher Wasserzufluß in den Straßengräben zu bemerken, da der Schnee auf den bergen schmilzt. Noch ist ein guter Vorrat Schnee vorhanden.
Thielmann.
Die Zahl der Mohammedaner auf der ganzen Erde beträgt ungefähr 260 Mln.
Davon sind in der Türkei 27 Mill.
Gesamt Russland 24
Persien, Tibet, Afghanistan n. Arabien 20
Indien 60
China 40
Java u. Polinesien 25
Afrika 65
*) Br. Penner fragt in einem Brief nach Berlin an, ob ein deutscher Bruder, etwa ein Bruder aus der Bibelschule, Freudigkeit habe, als Nachfolger von Br. Kliewer nach Chiwa zu gehen.
Es scheint, daß der Herr schon ein einen Bruder dazu ausersehen hat.
In der nächsten Nummer der „Offenen Türen“ wird Näheres über die Besetzung dieses wichtigen Postens mitgeteilt werden.
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