Alexejewka, am Tschu, Turkestan, den 4. Febr. 1910.
Da verschiedene Gerüchte von unserer Ansiedlung im Umlauf sind, habe ich schon längst die Notwendigkeit gefühlt, daß jemand dieselbe beschreiben sollte. Weil sich bis jetzt niemand dazu gefunden hat, möchte ich es versuchen.
Im Jahre 1907 brachen die ersten Ansiedler von der Nikolaipoler und Orlower Kolonie auf und kamen nach einer 30tägigen Reise den 28. April hier am Tschu an. Die Ansiedlung liegt von Aulie – Ata direkt im Norden zwischen dem Tschu und dem alten Flußbett desselben, welche 16 – 18 Werst von einander entfernt sind. Der ganze Plan mit all seinem Unland beträgt ca. 7 000 Deßj., und wird auf 100 Familien herausgegeben. Die Dörfer liegen ungefähr 10 Werst von dieser Seite Tschu zwischen zwei großen Wiesen, welche im Winter einmal und im Sommer einmal überschwemmt werden, d.h. beim Hochwasser des Tschu`s. Diese Ueberschwemmungen sind für unsre Ansiedlung von großer Bedeutung, da die Heuernte davon abhängig ist. Sie liefern uns, mit einem Wort, so viel Heu, wie jeder haben will und im Winter für unsre Viehzucht genügend Weide. Auf der großen Wiese nach dem Tschu hin wächst Rohr, auf der andern eine Art Schilfgras. Außer den Wiesen muß man das Land in Sand, Salpeter, Steppe und Ackerland einteilen. Es sind kleine Strecken Sand, meistens mit Sackfaulstrauch bewachsen. Auf dem reinen Salpeter natürlich wächst nichts, aber Land mit etwas Salpeter, ist zu gebrauchen. Die Steppe würde sehr gutes Ackerland geben, wenn Wasser hingeleitet würde, aber dazu fehlen vor der Hand die Mittel und Kräfte. Diese Steppe nimmt ungefähr den halben Plan ein und ist mit Kraut und Strauch bewachsen, das Volk nennt es „Jingel.“ Das Pflug- oder Ackerland ist dunkel aschgrau, beinahe ganz mit stacheligem Kraut „Jautack“ genannt, bewachsen, stellenweise findet sich auch das vorhin genannte Jingel oder das stachlige Strauch Schingel oder Schirkanal. Längst den Arecken (Wassergräben) wachsen auch auf etlichen Stellen Oelbäume, deren Beeren ein reiches Futter für die zahlreichen Fasane ist. Die Ufer des Tschu, von wo wir auch unser Bauholz holen, sind in unsrer Gegend mit Oelbäumen und Weiden bewachsen. Das Holz ist zwar nicht gerade, aber wir haben uns doch Wohnungen davon gemacht. Der Tschu ist sehr fischreich. Im Frühling kommen in großen Scharen viele verschiedene Arten von Schwimm- und Sumpfvögeln, welche ihn dann den Sommer über bewohnen. In dem Rohr, welches bis 10 Arschin hoch wird, halten sich viele wilde Schweine auf. Auch Rehe sieht man hin und wieder. Sogar etliche Tiger hat man schon erlegt. Außer verschiedenen Nagetieren sind die Hasen sehr zahlreich, auch der Dachs, der Fuchs und der Wolf lassen sich sehen und machen Schaden; es sind hier einige Schafe zerrissen worden.
Das Land wird hier einen guten Ertrag geben, dafür reden verschiedene Gründe; der Klee (Luzern) wird dreimal geerntet und das letztemal abgeweidet, d.h. von den Kosaken gesäten, ohne Mist. Selbstgesäter Klee haben wir bis jetzt noch nicht geerntet. Werden wir erst unseren eigenen Klee unter deutschen Kultur haben, dabb rechnen wir darauf, ihn viermal vollständig zu ernten. Der Weizenertrag im vorletzten Sommer betrug von 80 – 149 Pud a Dessj. vom Ueberschwemmungsland. Im vorhergehenden Winter war eine große Ueberschwemmung. Im verflossenen Jahre hatten infolge der Ueberschwemmung etliche eine totale Mißernte, andere eine geringe Ernte: die Feuchtigkeit reichte nicht aus. Jetzt, da der Herr die Herzen der Kosaken dahin gelenkt hat, daß sie uns den Hauptareck abgetreten haben, haben wir auf Getreidebau die besten Aussichten.
Das Geschrei in der Welt: „Die Ansiedlung am Tschu kann sich nicht halten,“ oder wie ich neulich in einem Blatt der Rundschau las: „Mit unserer neuen Ansidlung am Tschu scheint es den Weg der Tereker Ansiedlung zu gehen!“ sind vorgegriffene Urteile ohne Grund. Man sollte sich erst vollständig überzeugt haben von einer Sache, ehe man sie in die Welt hineinschreibt, um nicht einer neuen Ansiedlung ohne genügenden Grund einen bösen Namen zu machen, wovon in manchen Fällen große Nachteile entstehen können. Zwar haben manche Umstände, aus der Ferne besehen, aber ohne gründliche Untersuchung, den Anschein eines Unterganges der Ansiedlung gehabt und haben ihn auch noch: Ein Umstand ist, daß der größte Teil der Ansiedler außer ihrem Fuhrwerk und den nötigsten Sachen, fast gänzlich ohne Mittel herkommen. Die übrigen hatten nur wenig Mittel. Eine wohlhabende Familie gab es überhaupt unter uns nicht. Deshalb sind die meisten unter uns auf die Mithilfe unserer Mutterkolonie (bei Aulie - Ata) oder von anderwärts angewiesen bis zur nächsten Ernte. Es sind nur einzelne, die noch nicht Mithilfe beansprucht haben und doch, von ihren Verwandten habne auch diese mehr oder weniger in irgend einer Weise Mithilfe bekommen. Die Mutterkolonie ist klein und hat im verflossenen Jahre auch nur eine schwache Ernte gehabt, deshalb war auch die Mithilfe nur schwach.Uebrigens hat unsere Kolonie schon viel für uns geopfert, wofür wir dankbar sind. Ein anderer Umstand ist, daß einige Schwachmütige, die zu feige waren, die Entbehrungen und Arbeiten, die eine neue Ansiedlung mit sich bringen, auf sich zu nehmen, davon gingen und mit einigen Besuchern, die aus unmoralischen Gründen mit jenen zusammen unsinnige Gerüchte verbreiteten. Die wirzurückgebliebenen sind, haben eine ganz andere Ueberzeugung. Den Beweis liefert nach unserer Meinung der geerntete Weizen, der auf hinreichend feuchtem Boden reif wurde. Den Areck bekamen wir erst nach der Saatzeit, deshalb säten wir auf Nichtbewässerungsland. Zum Hirsesäen konnten wir schon wässern. Weil aber die Zeir der Hirsesaatzeit mit der Heuernte zusammentrifft und die Pferde bei dem hiesigen Heu mager sind (weil es Rohr und Schilfheu ist, sich für Rindvieh zwar gut eignet), konnte man nur wenig Hirse in die Erde bringen. Die meisten in dieser Zeit waren auch auf dem Wege nach Mehl, welches weit zu holen war, infolgedessen bei vielen vom Hirsesäen nichts wurde und die Heuernte auch wieder etwas zu spät wurde. Ein drittel Deßj. Besäte ich mit Hirse und erntete davon 50 Pud. (Hirse ist hier zu Lande ein Hauptprodukt.) Auch das Land zum Wintergetreide konnten wir vor dem Pflügen wässern. Der Herr hat die Saat gesegnet und sehr schön aufgehen lassen. Nur schade, daß wir Sommerweizensamen säen mußten, weil wir Winterweizensamen nicht hatten.Die Zeit wird uns nun lehren, wie der Sommerweizen als Winterfrucht gedeihen wird. Aus den Gärten haben wir auch reichlich Kartoffeln, Gemüse, Arbusen und Melonen geerntet. Arbusen bis zu 22 Pfund schwer, Besenhirse 5 Arschin hoch.
Unter Vieh ist in gutem Zustande. Im ersten Jahre krepierten viel Rindvieh und Pferde, infolge des ungewohnten Klima`s des schlechten Futters (man hatte das Gras viel zu spät gemäht) und der schlechten Ställe. Wir müssen hier gute Stellung für das Vieh haben gegen den schweren kalten Wind von Nord – Ost, welcher dem Vieh sehr nachteilig ist, wenn es ihm ausgesetzt ist. Dieser Wind und im Sommer die Bremsen sind für mich die größten Uebel am Tschu. Die Plage der Mücken ist gut zu ertragen. Dagegen aber das Schöne im Winter. Die Brennung, die wir aus dem Sacksaulwald (Sacksaul – ein Strauch in Asien – E.K.), 8 Werst von uns entfernt, holen können, und womit wir uns, wenn der Wind manchmal acht Tage anhält, die Stuben tüchtig warm machen könne.
Wir sehen aus diesem, daß nicht die Gegend, sondern die Armut unsere Lage fraglich macht. Deshalb, lieben Geschwister, gedenket unser in der Fürbitte. Wir blicken mutig und hoffnungsvoll in die Zukunft, weil wir doch zur Genüge wissen, daß diese Ansiedlung von Gott gewollt und gergündet wurde, um seine besonderen Absichten an diesem Orte zu verwirklichen, und zwar, wie wir bestimmt glauben. Licht in das Dunkel der umwohnenden Völker zu bringen. Denn ohne unsern Gedanken an den Tschu wies uns Gott durch den damaligen Herrn Natschalnik Kolmakow diesen Ansiedlungsplan an. Was nun unser Herr anfängt, das führt er auch aus; folglich ist auch die Existenz unserer Ansiedlung eine gesicherte, daß sie unter Gottes Führung selbstständig, weiter existieren wird. Möchten wir nur unsere Aufgabe erkennen und unserm hochgelobten Heiland in Demut und in vernünftiger Weise dienen. Wie auf vielen Stellen Rußlandes haben auch wir einen gelinden Winter.
Dieses mag genügen, um eine Vorstellung von unserm Tschu bekommen. Spr. 1, 23 – 33.
Ein Ansiedler am Tschu. |