Einige Notizen über unsere Reise und das Werk des Herrn im Turkestan.
Da mehrere Geschwister, mit denen wir auf der im verflossenen Winter gemachten Reise in Berührung kamen, den Wunsch äußerten, etwas von uns und dem Werke des Herrn hier durch die „Frdst.“ hören zu lassen, will ich versuchen, durch diese Zeilen solches zu tun. Zunächst lasse ich einige Notizen über die oben erwähnte Reise folgen.
Als ich mich im Herbste 1908 um des Werkes des Herrn Willen nach Turkestan begab, blieben meine Söhne bei ihren Großeltern Martin Schneider, Nikolaipol (Jasykow) zurück. Um diese herüber zu holen, begab ich mich in Gemeinschaft meiner lieben Frau, welche der Herr mir indessen in der Schw. Auguste Janzen, Köppental, hier zu Seite gestellt hatte, am 6. Oktober 1909 auf die Reise dorthin. Nach 4 ½ tägiger Wagenreise erreichten wir die 325 Werst entfernte Stadt Taschkent, wo wir die nicht zahlreichen Kinder Gottes (russ. Baptisten) in ihren Häusern und Versammlungen besuchten. Sie gehören alle zu den Unbemittelten; doch bemühen sie sich, soviel Sparpfennige zurückzulegen, daß sie die Unterhaltung eines Versammlungssaales für 30 Rbl. Monatsmiete uns sonstige Unkosten bestreiten können. Der Zudrang an den Sonntag – Nachmittagen soll so groß sein, daß der nicht sehr kleine Saal überfüllt wird; obwohl dort nicht ein zur Wortverkündigung besonders geeigneter Bruder ist. Daß Taschkent ein wichtiger Ort für Evangelisation ist, dafür spricht der Umstand, daß dort allezeit zahlreiches Militär steht. Manchem Jüngling, der hier seine Militärpflicht ableistet, geht es ebenso wie vielen von unsern Jünglingen auf den Forsteien: sie finden den Heiland, und bringt ihnen die nach menschlichem Ermessen für sie beinahe verlorene Zeit Ewigkeitsgewinn.
Von dieser Stadt aus sollte das Dampfroß uns unserm Bestimmungsorte näher bringen, doch mit Unterbrechungen; denn wir beabsichtigen mehrere Geschwisterkreise auf dieser Reise zu besuchen. Ein Anhaltspunkt war die Station Sorotschinskaja, wo wir die vielen bekannten Aron Warkentins besuchten. Hier hatte der Herr nicht vor langer Zeit in ernster Weise gesprochen: die den betagten Eltern kräftig zur Seite stehende Tochter Liese hatte er ihnen durch den Tod entrückt, während der Sohn Aron wegen Augenkrankheit beim Arzt in Simferopol weilen mußte. Nun waren die lieben Alten ganz auf sich angewiesen, was noch dadurch erschwert wird, daß die alte Schwester so schlecht hören kann. Zu jener Zeit weilten ihre Kinder Abraham Klassens für eine unbestimmte Zeit bei ihnen, was eine Erleichterung für sie war. Der Herr tröste diese Lieben und lasse ihnen diese Trübsal zum Segen und zur Verherrlichung seines Namens dienen.
Von hier ging es nach der Ansiedlung im Ufimschen Gouvernement bei der Station Dawlekanowo, wo wir mehrere Geschwister in ihren Häusern besuchten. Unter anderm war es uns vergönnt, die unter Br. Jakob Martens Leitung stehende Armenschule zu besuchen, in der dieses Schuljahr ca. 80 Kinder Unterricht genießen. Dies Werk schien mir eine Oase in den Ufimschen Steppen zu sein. Gott möge das Glaubens – und Liebeswerk dieses Bruders und seiner Mithelfer segnen! Ich hatte die Gelegenheit, das Wort Gottes hier in vier Bethäusern und vier Schulen mit verschiedenem Eindruck und Erfolg zu verkündigen. Ein erfreuliches Zeichen eines gesunden innerlichen Lebens ist, wenn Kinder Gottes sich nicht nur ihres Gerettetseins freuen, sondern auch von dem herrlichen Bewußtsein durchdrungen sind, daß sie dazu da sind, mitzuhelfen in der großen und wichtigen Rettungsarbeit unseres Gottes. Ich hatte die Freude wahrzunehmen, daß dies Bewußtsein in dem Kreise jener Kinder Gottes erwacht und im Zunehmen begriffen war. Mit Dankesgefühlen erinnern wir uns der Liebe, welche uns dort in verschiedener Weise so reichlich entgegengebracht wurde.
Von Dawlekanowo folgten wir, nach reichlicher Erwägung vor dem Herrn, einer Einladung des lieben Br. Jakob Töws, Alexandrowka nach der Altsamarischen Ansiedlung, wo wir mit bis dahin Unbekannten uns eins in Jesu wußten. Wir fühlten uns zu gering der Liebe, welche man uns auch hier entgegenbrachte, welche sich nicht nur in Worten und Gefühlen, sondern, wie auch am vorher erwähnten Ort, in reichlicher Teilnahme an dem Werke des Herrn in Turkestan kundtat. Auch hier fanden die Türen der Bet- und Privatnäuser, sowie der Schulen für die Verkündigung des Evangeliums offen, und ich vertraue zum Herrn, daß das verkündigte Evangelium auch offene Herzen gefunden hat. Nach zweiwöchentlichem Weilen an diesem Ort rüsteten liebende Geschwisterhände ein Fuhrwerk aus, welches uns nach der 120 Werst entlegenen Stadt Samara brachte, wo wir die lieben Geschw. Jakob Wiens und deren gesegnete Tätigkeit kennen lernten. In der Gemeinschaft der Brüder Gerhard Siemens – Petrowka und Heinrich Unruh, Missionar, nahmen wir hier Anteil an einer Versammlung der Kinder Gottes in ihrem Versammlungslokal.
Den folgenden Sonntag befanden wir uns in dem Geschwisterkreise auf Naumenko und nahmen an den Erbauungen in Petrowka und Wassiljewka teil. Wir hatten hier die Freude, den Segnungen einer Erweckung unter der Jugend, welche durch die Arbeit des lieben Br. Jakob Dörksen – Terek entstanden, beizuwohnen. Auch die Geschwister in Barwenkowo und Rerberg durften wir während eines späteren Besuches in Häusern und Versammlungen besuchen. Wirklich wohl zut Gemeinschaft mit solchen, mit denen man durch das Band der Liebe und durch verschiedene Erfahrungen schon früher verbunden wurde. Gott segne die Lieben und vergelte jedem, der in irgend einer Weise seinen mithelfenden Sinn gegen uns kund tat.
Sofijewka und Jakowlewo waren ebenfalls Orte, wo wir liebe Bekannte und Geschwister im Herrn besuchten. Hier hat der Herr Seelen, welche in teilnehmender Weise Seiner Werke gedenken. Nachdem wir noch einen Tag in der Mitte der Geschwister in Rosental verlebt hatten, begaben wir uns an den Bestimmungsort, wo wir uns mit unsern Kindern, Schwiegereltern und andern Kindern Gottes endlich begrüßen durften. Das dieß besondere Tag verursachte, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Doch nicht viele Tage sollte unser Weilen hier sein.
Unsere Kinder zurücklassend, begaben wir uns anfangs Dezember nach den Molotschna – Kolonien, wo ich in folgenden Dörfern das Wort Gottes verkündigen dürfte: Tiegenhagen, Schäferei, im Altenheim, Rückenau, Lichtfelde, Nikolaidorf, Mariawohl, Steinbach, Alexandertal, Großweide und Waldheim. In Schönsee wohnte ich der Einweihung der neuerbauten Kirche und einer Bibelbesprechung bei. Des schlechten Weges und der kurzen Zeit halber blieben mehrere Orte, wohin wir Einladung hatten, unbesucht. Es bot sich uns hier Gelegenheit, mehrere zur Linderung menschlichen Elends erbaute Anstalten zu besuchen: das jüngst errichtete Diakonissenheim „Morija“ in Halbstadt und das von dem verst. Prediger Wall gegründete Krankenhaus in Muntau. In ersterem wird den Schwestern theoretischer und in letzterem praktischer Unterricht in der Krankenpflege geboten. Der christliche Sinn, welchen man hier wahrnimmt, ist sehr wohltuend. Weiter das oben erwähnte Altenheim. Daß sowohl die Hauseltern als auch die armen Alten dort Geduld und Liebe zu üben Gelegenheit haben, dafür sprachen die mir gemachten Mitteilungen. Dann die von Br. Harder gegründete Waisenanstalt in Großweide. Wir fanden Erquickung und Ermutigung für unsere Arbeit durch die Mitteilungen der Glaubenserfahrungen, welche die Geschwister Harder in diesem Werke zu machen gewürdigt sind. Schließlich noch das von Geschw. Warkentins erbaute Krankenhaus in Waldheim, wo wir den an Gelbsucht leidenden Br. Töws – Conteniusfeld trafen, welcher später dieser Krankheit erlegen ist. Gott segne diese Liebesstätte und – werke dahin, daß sie nicht nur leibliche Uebung und Linderung der äußerlichen Not bieten, sondern vielmehr Uebung in der Gottesseligkeit und Heilung der tiefen Seelennot durch Christum, den wahren Arzt. Auch auf diesem Teil unserer Reise ist uns manche Wohltat und Mithilfe in unserer Arbeit erwiesen worden, wofür wir nochmals ein herzliches „Vergelts Gott!“ zurufen. Nachdem wir uns von meinen lieben Eltern und Geschwistern in Nikolaidorf, vielleicht auf nicht mehr Wiedersehen in dieser Welt verabschiedet hatten, ging es retour nach Nikolaipol (Jasykow), um dort unsere Kinder zu nehmen und die Rückreise nach Turkestan anzutreten. Die inzwischen erhaltenen Briefe mahnten zur Eile, da meiner Frau Vater, den wir an Rückenmarkschwindsucht leidend zurückließen, beteutend kränker geworden, und er wünschte, womöglich, uns noch einmal vor seinem Tode zu sehen.
Nachdem wir an einer zweitägigen gesegneten Bibelbesprechung in Nikolaipoler Versammlungshause teilgenommen hatten, begaben wir uns, nach schwerem Abschied von den Schwieger – und Großeltern, auf die Rückseite. Auf derselben besuchten wir u.a. die Geschwister in Millerowo und Kantemirowka. Gott wird nicht vergessen, was auch diese Lieben an einem seiner Geringsten um Seines Namens willen getan haben. Den 26. Januar kamen wir in Taschkent an, wo wir erst den 29. den letzten Teil unsrer Reise per Wagen antreten konnten. Schlechten Weges halber dauerte die Wagenreise jetzt 7 Tage. Schon auf dem Wege kam die Nachricht, daß der liebe Vater den 28. selig heimgegangen war. Die lieben Br. Bohn und Janzen, mein Schwager, waren uns eine Tagereise entgegengekommen, um uns zu begrüßen und uns schneller heimzubringen.
Wir freuen uns, daß wir wieder an an unserm Wirkungsort sind, wo wir vollauf zu tun haben, teils und hauptsächlich mit Sprachstudium, teils mit Schreiben verschiedener Korrespondenzen und anderm. Fast zu schnell eilt die Zeit dahin, das Ergebnis einer Tagesarbeit ist gar zu winzig. Nicht selten steigt der Wunsch auf, daß einem Zeit und Arbeitskraft in doppeltem Maße zur Verfügung ständen. Um diese richtig in Anwendung zu bringen, muß man Weisheit von oben erlangen.
Wenn ich in Erwägung ziehe, daß die dahineilende Zeit mich unaufhaltsam dem Zeitpunkte näher bringt, wo „man nicht mehr wirken kann“ und ebenso das Elend des Volkes, um dessen willen wir hier weilen, dann erkenne ich den großen Ernst der Gegenwart, und es erfülllt mich eine Bangigkeit darüber, ob Gott durch mich wird erreichen können, was Er will. Mich meiner Ohnmacht und Untüchtigkeit tief bewußt, möchte man „den Gesellen im andern Schiffe winken, das schwere Netz ziehen zu helfen“ durch treue Fürbitte. Wir wollen uns nicht verhehlen (verheimlichen – E.K.), daß es eine Arbeit zu sein scheint, wo „man die ganze Nacht arbeitet und doch nichts fängt.“ Aber noch weniger wollen wir uns verhehlen, daß wenn wir „auf Sein Wort hin das Netz auswerfen“, es nicht leer bleiben wird. Gott gebe Seinen Kindern Gnade, daß sie die Verantwortlichkeit mehr als je erkennen, die sie diesen Völkern gegenüber haben, O daß doch der Zeitgeist aus der Mitte der Kinder Gottes vertrieben würde, daß doch das Jagen nach dem Verderben bringenden ungerechten Mammon (Geld, Reichtum – E.K.) verbannt würde, ja daß die Liebe, das Band der Vollkommenheit, welche allein imstande ist, sie zu besähigen, wie ein Mann dazustehen, reichlich in ihre Herzen ausgegossen würde! „Die Augen des Herrn durchstreifen die ganze Erde, daß Er sich mächtiger zeige an denen (und durch sie), die von ganzem Herzen „Ihm“ ergeben sind.“ (2. Chron. 15, 9).
„Die Sünde ist der Leute Verderben.“ (Spr. 14, 34). Für die Wahrheit dieses Ausspruchs sind unsere Nachbarvölker, darunter die Kirgisen, ein klarer Beweis. Sie sind verlorene Söhne, ferne von Gott, ohne Ihn dahinlebend nach dem Willen des Fleisches. Sie sind „unverständig, ungehorsam, gehen irre; dienen den Lüsten und mancherlei Begierden, wandeln in Bosheit und Neid, verhaßt und einander hassend.“ (Titus 3, 3). Sie sind innerlich und äußerlich arm. Viele haben nicht zu essen, und die Arbeit nicht liebend, suchen sie durch Betteln etwas für den unruhigen Magen zu erwerben. Gewöhnlich geben sie ihr Land an die Deutschen ab, um es zu besäen, wofür sie die Hälfte des Ernteertrages als Vergütung erhalten; aber in diesem Jahre wird, wie es scheint, manches ihrer Felder wegen Mangel an Geld und Getreide unbestellt bleiben. Es ist daher zu fürchten, daß der kommende Winter den Brotkorb noch höher hängen wird. Wann wird „die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, ihres Retters, auch diesen Armen erscheinen, damit sie durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung des Heil.Geistes nach Seiner Barmherzigkeit gerettet werden?“
Um nun diesen Armen die helfende Bruderhand auf dem best möglichen Wege entgegenzustrecken, hat man beschlossen, ein Krankenhaus zu bauen, wo Kranke aus ihrer Mitte Aufnahme und Pflege finden sollen. Den 19. Februar letzten Jahres traten die Brüder hier zusammen, um Näheres über den Bau desselben zu beraten. Sobald wie möglich soll der Bau begonnen werden. Eine Anzahl Ziegel und etwas Bauholz wurden schon im verfl. Jahr zubereitet. Vier Brüder wurden gewählt, den Bau zu beaufsichtigen und zu leiten: Aron Dick und Aron Janzen – Nikolaipol, Cornelius Neumann – Gnadental (Andrejewka) und Cornelius Wall – Köppental (Romanowka). Der alte Br. Abr. Koop wurde zum Kassenführer dieses Baues gewählt. Trotzdem der Kassenbestand ein nur geringer ist, wurde doch beschlossen, nicht Schulden zu machen, sondern eine solche Glaubens – resp. (bzw. – E.K.) Herzensstellung zum Herrn einzunehmen, daß Er das Notwendige zum Bau zukommen lassen kann. Sollte der Herr nun dem einen oder dem andern von den lieben Lesern dieses Artikels die Aufgabe stellen, in dieser Sache mitzuhelfen, so möge die Adresse des Kassensführers in Anspruch genommen werden: Господину Абрагаму Копъ, с. Николай-поль, п.о. Аулиэ-ата, Сырь-Дарьинской области.
Daß „der alt` böse Feind“ auch heute nicht ruhig zusieht, wenn Vorkehrungen getroffen werden, um unglückliche Menschenkinder aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, lehrt auch hier die Erfahrung. Es ist ihm einerlei, wo er die Mittel, dies zu verhindern, hernimmt: ob er das Werk und die Arbeiter bei der Behörde verdächtig macht, ob er durch gottfeindliche Menschen sein Möglichstes zu erreichen sucht, ob er die Kräfte der Kinder Gottes durch Versündigungen lahm zu legen sucht, ob er durch innere Anfechtungen die Beteiligten am Werk zu entmutigen sucht - wenn er nur sein Ziel erreicht! Doch wir wollen nicht von denen sein, die da weichen, sondern die mit Dr. M. Luther singen:
Mit unsrer Macht ist nichts getan,
Wir sind gar bald berloren;
Es streit`t für uns der rechte Mann,
Den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer Der ist? Er heißt Jesus Christ,
Der Herr Zebaoth, Und ist kein andrer Gott –
Das Feld muß Er behalten!
Zum Schluß möchten wir allen denen, die uns in irgend einer Weise ihre Liebe und Teilnahme erwiesen haben, sei es, daß man uns Aufnahme gewährt hat, oder daß man uns ermutigte in unserer Arbeit und uns mit Rat zur Seite stand, oder auch in brüderlicher Liebe zurechtwies, wo es notwendig war, oder wo man in direkter Weise Mithilfe in dem Werke des Herrn hier erwiesen hat – nochmals unsern herzlichen Dank auszusprechen und uns und das Werk hier auch der fernern Fürbitte der lieben Geschwister empfehlen.
Martin und Auguste Thielmann.
Bemerkungen von Elena Klassen: Infos und Fotos von Prediger Martin Thielmann und R. Bohn s. in dem Buch „Die alte Heimat im Talas – Tal“ von R. Friesen (S. 53, 65, 67, 70) |