Kopie der Zeitung "Mennonitische Rundschau" vom 22. November 1922, Seiten 11 und 12. (gotisch) von Elena Klassen.
Nikolaipol, Turkestan, d. 18. Sept. 1922.
Geliebte Freunde und Bekannte.
Gott mit Euch, bis wir uns wiedersehen, aber droben beim Herrn! Wie oft denkt man, wer weiß, wie es den Lieben allen in Amerika geht, und wer noch alle lebt. So werdet auch Ihr denken.
Zum Schreiben bin ich durch Euren werten Brief an J.Wieben veranlaßt worden. Ich war nämlich Sonntag auf Tins Geburtstag und ihre Geschwister waren auch dort, die noch am Leben sind, und dort hörte ich Euren Brief. Dazu kam in der Woche eine Rundschau an Geschwister Jak.Wedels. Hier sind keine Zeitungen, Briefe sind nur wenige, und die gehen ängstlich. Ihr wißt dort mehr aus dem Süden Rußland, als wir hier. Wie schrecklich gehen doch die Gerichte Gottes über die Menschen. Mir verging nach dem Lesen der Schlaf, man seufzt und betet, der Herr möchte die Lage doch einmal wieder ändern, oder Er möchte mit seiner Zukunft erscheinen. Von den Wundern Gottes ist hier schon sehr viel zu berichten, was Er unter uns getan hat. Es sind die schwarzen Wolken schon viel über unserem Haupte zusammen gezogen, daß wir uns fürchteten und zum Herrn riefen. Mit einmal teilten sich die Wolken, und „nach dem Sturm und Schmerz, erfreut der Friedensbogen mich und tröstet mir das Herz“. Bis zu diesem Sommer hat noch ein jeder Brot gegessen, ich mit meinen Kindern auch. Es sind Jakob, Johann und Abram Krökers und Abram Wedels. Aber mit einmal kam es doch zum Vorschein, daß mehrere Familien schon wochenlang kein Brot gehabt, andere wieder sehr spärlich. Und wenn die Anforderungen so hoch bleiben, wie sie angegeben sind, dazu kein Erbarmen ist, dann gibt es hier eine große Hungersnot. Ausgesät ist wenig, dazu hat es wenig gegeben. Peter Wedel soll über 300 Pud schicken und hat nicht genug für sich gebaut, und so geht es den Besten. Die Gemüseernte ist wieder sehr erfolgreich. Es gibt von allem viel, aber wenn das liebe Brot nicht da ist, dann ist es doch sehr schwer. Immer Kartoffeln kann nicht jedermann vertragen, insbesondere für die Alten und Kinder. Was Hungersnot kann und ist, daß haben wir gesehen hier bei den Kirgisen. Da haben wir geholfen, doch nicht nach Kräften, und wie ein Prediger jetzt von der Kanzel sagte, so nimmt es jetzt der Herr. O was haben wir schon liefern müssen, die Mahlzeiten sind dadurch schon sehr schmal geworden. Die Pferde sind infolge der vielen Podwoden (Pferdekutschen – E.K.) und bei dem schmalen Futter, denn Hafer bekommen sie keines, bleiben viele liegen, so auch Sohn Abram blieben zwei am Wege liegen. Die Milch wird geliefert und dafür können unsere Jünglinge zu Hause bleiben. Will man was kaufen, so soll alles nur gegen Käse und Butter gehen. Ein Pf. (Pfund – E.K.) Butter kostet eine Million. Die Steuer wird sehr hoch gelegt, 17 Pud von der Desjatine, und so von Klee, Gemüse, Obstgärten, Baustellen. Dazu sind im vorigen Herbst sehr viele Menschen hergekommen wegen Hungersnot. Die wurden dann alle in die Häuser gedrängt, andere wurden dadurch hinausgedrängt. So auch ich, ich hatte mein Häuschen allein wohnte ruhig und in Frieden und mit einemal hieß es „Hinaus“. Ich weigerte mich mit Tränen, doch alles half nichts. Da zog ich zu den Kindern J.K. Wir da zu 13 im Hause. Ich dachte, wo werde ich aber meinen müden Körper hinlegen. Der alte Bruder Jakob Mandel (wahrscheinlich Mandler – E.K.) ist auch hier als Witwer er ist 79 Jahre alt. Ich hoffe von einer Morgenwache zur anderen auf ein Häuschen, denn hier kann ich zum Winter nicht bleiben. Ich bin 64 Jahre alt und habe Br. Wilhelm Dyck seine Tochter hier bei mir. Ich habe noch vergessen, daß wir den Flüchtlingen das Essen stellen mußten, so auch die Heizung zum Ofen, und auch für den Schullehrer. Es war fast jeden Augenblick ein Wagen auf dem Hofe, bald nach Holz bald nach Mist (Brennmaterial), und dann Nahrungsmitteln. Und für diesen Winter steht es wieder so in Aussicht. Und es ist so wenig da. Da hört man oft sagen, man arbeitet sich müde, und das bloß für andere. Aber der alte Gott lebt ja noch, und Er hat das Steuer in der hand, aber es geht uns doch oft so, wie es den Jüngern ging, als die Wellen so hoch stiegen, Herr hilf uns, wir verderben.
Nun will ich noch berichten, so viel ich mich besinnen werde können, wer schon alle hinüber in die Ewigkeit gegangen ist. Es wird mir sehr schwer, wenn ich schreiben soll, daß mein lieber Bruder Abram Dyck mit Frau in die ewige himmlische Heimat eingegangen sind. Der Schmerz war für mich sehr groß und wie viel mehr für die lieben Kinder.Unverheiratet sind noch: Wilhelm, Jakob, Peter, Liese, Tina und Hermann, 8 Jahre alt. O, das Kind hat geschrien, als er sah den Papa in die Gruft senken, daß es das härteste Herz rührte. Sie liegen dicht beieinander auf dem Friedhof. Er starb 7 Wochen später. Kurz vor seinem Sterben kam er noch zu Fuß von Orloff, es war Saatzeit, ich freute mich aber sehr, bei mir war er zum Kaffee. Onkel Mandtler kam auch noch, und so teilten wir uns mit, wie es uns der Seele nach ging, dann beteten wir noch zusammen, und dann ging er zu seinen Kindern H.Wedels. Er sagte, er wolle uns noch alle einmal besuchen, denn, sagte er, es sei, als werde er auch erkrankten und sterben. Und am anderen Tage hatte er schon nicht wohl gefühlt, und es kam, wie er gefühlt. Er ging freudig heim, er hielt seinen Verstand bis ans Ende, aber zuletzt hörte sich das Sprechen auf. Seine Frau war bei ihrer Krankheit die meiste Zeit nicht bei Bewußtsein, sie hat dabei immer zu den Kindern gesprochen. Gerhard Regehr hat ein großes Krankenhaus aufbauen lassen für die Mission unter den Mohammedanern und da lagen jetzt unsere Kranken, die Schwägerin lag auch da, und er half sie bedienen, es waren auch noch Krankenschwestern dort und ein Feldscherer, als sie gestorben war.
2 Uhr nachts kam er zu mir ans Fenster und erzählte, daß sie gestorben ist. Er weinte und sprach so laut, als er sagte, daß er Witwer geworden, daß mir das Herz fast brach. Ich sagte „O, du Armer“. Er erzählte mir einiges von ihr, auch daß sie freundigheimgegangen sei. Bevor man sie ins Krankenhaus gebracht hatte, hatte sie noch einen rührernden Abschied mit den Ihren gehabt und alles in Ordnung gebracht. Sie hatte gesagt, sie wolle ruhig auf ihrem Krankenbette sein. Wilhelm war auch schon ziemlich krank, er hatte sich noch in seinem Bett aufgerichtet und zum Fenster hinausgesagt „Mama fahre aber glücklich.“ Um ein Paar Tage wurde er auch dorthin gebracht. Er war sofort außer Verstand, darüber starb die Mutter, als er dann erst wieder gesund war, wußte man nicht, wie man es ihm beibringen sollte, denn er hatte schon immer nach der Mutter gefragt, aber es war ihnen bange vor Rückfall. Mit dieser Warnung hatte man es ihm dann gesagt. Es war Fleckentyphus, eine ansteckende Krankheit. Tina und Lieschen waren schon durch, die hatten es sich vom Nachbar geholt, sie kamen durch, aber die lieben Eltern sind weg, sie war eine sehr bemühte Hausmutter, Martha hieß sie, und sie war es auch in Wirklichkeit. Wir liebten uns sehr. Vor einem Jahre war ich noch auf ihrem Geburtstage, ich ließ mir auch noch einen schönen Korb machen, auch noch ein Gedicht dazu. Als wir am Vespertisch (Vesper, Vasper - Abendessen – E.K.) waren, und er am gedankt hatte, las ich ihr noch das Gedicht vor und sie nahm es dankbar und froh an, und jetzt ist sie nicht mehr hier. Ich bange mich so sehr, er war ordinierter Prediger, und die Leute liebten ihn alle sehr. In Orloff auf seinem Begräbnis hielt Abram Quiring eine Ansprache, er sagte unter anderem, der Bruder wird uns sehr fehlen, denn wo er stand, da brauchte kein zweiter, auch hielt er viel vom Singen. Wenn er erst in der Versammlung war, dann sagte er auch schon vor zum Singen. Er fehlt ihnen in Orloff sehr, so auch den Lutheranern und den anderen allen, aber sie kehren nicht mehr zurück. Wißt Ihr es schon, daß auch die Frau P.Pauls gestorben ist, sie kam mit dem 15. Kinde ins Wochenbett, ein Töchterchen hinterblieb, ihre Stieftochter hat es selbst aufgesaugt, es ist ein sehr freundliches Kind. Sie wurde von Schwester Abram Janzen bedient, was ihr den Tod brachte, war Blutvergiftung. 14 Kinder sind am Leben und eine Stiefmutter ist schon hinzugekommen. Die liebe Sara hat viel in ihrem Leben geweint, aber sie blieb bis ans Ende schön gesund. Ihre Söhne fuhren in den Süden, um sich in den Hochschulen auszubilden, darüber kam der Krieg, und sie erhielten gar keine Nachrichten mehr, und wenn je eine Nachricht kam, so war sie traurig. Aber auf einmal kommt eine Postkarte von den Söhnen Peter und Franz, die die Nachricht bringt, daß die beide zum Herrn bekehrt sind, und beide in der russischen Zeltmission arbeiten. Es machte ihnen große Freude, und sie dankten in der Versammlung mit vielen Tränen. Nicht lange darauf sind wir in der Bibelstunde, da kommt der alte Br. Buller und sagt Br. Pauls etwas ins Ohr, er geht hinaus und sie folgt ihm nach. Wirklich, die Söhne waren zu Hause. Es war Sonntag Nachmittag und abends legten sie noch Zeugnis von Jesu ab vor einer sehr großen Versammlung. Peter sprach über das Wort „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln...“, er betonte besonders das „Mein“, Franz sagte mit freudigem Angesicht das Lied vor, „Einst war ich gar weit von dem Heiland“, und dann erzählte er seine Bekehrung, aber da hättet Ihr die Mutter sehen sollen. Ihr Gesicht war bedeckt mit Freudentränen. Sie waren noch etliche Monate zusammen, und dann ging sie hoffnungsvoll heim. Durch die beiden jungen Brüder hat sich schon manch eine junge Seele bekehrt. Auch ist hier durch sie ein Jugendbund entstanden, und den jungen Leuten wird was dargeboten, für den Herrn zu tun. Vorige Woche starb Schwester Johann Koop, Nikolajpol in einer schweren Lage, sie hinterläßt 6 Kinder und ihren Gatten, auch sehr schwer. Um der Kinder willen wäre die Frau noch gerne bei ihren Kindern geblieben, der Herr wollte es aber anders, und so ergaben sie sich dem Willen des Herrn. Es sind aber auch Seelen gestorben ganz hoffnungslos, das ist sehr schrecklich.
Nun will ich fragen, lebt die Witwe Peter Wiebe noch und wo ist sie? Ich wollte schon sagen, daß wenn mein unvollkommenes Schreiben dort ankommt, das Wichtigste der Rundschau zu übergeben, damit alle Freunde und Bekannte hiermit eine Nachricht erhalten. (Der ganze Brief ist uns wichtig, denn viel wird nach Nachrichten auch aus Turkestan ausgeschaut, doch kommt fast nichts herüber. Mit Dank wird dieser Bericht aufgenommen. – N.)(jemand aus der Zeitungsredaktion – E.K.) Will noch berichten, daß ich zu Nachmittag zum Begräbnis eingeladen bin bei Gerhard Dycken, ihr kleinster Sohn von 9 Monaten ist gestorben.
Der junge Br. P.Pauls hielt die Leichenrede, er sprach über Jes. 55, 8-11. Die Dycken Kinder bestellen alle sehr zu grüßen. Es sind Johann Buller`s, Heinrich Wedels, Gerhard Dycken, Fritz Janzens, Martha ist auch gestorben. Sie hatte einen Bernhard Janzen. Sie starb auch an Typhus. Der liebe Bruder hat noch alles bestellt, wie die Kinder es machen sollen nach seinem Tode, auf die andere Woche wollen sie Teilung haben.
Der Gesundheitszustand ist hier jetzt so ziemlich gut. Aber der Typhus hat manchen hinweggerafft. Und bedeutende Männer, wie zum Beispiel Br. Ar.Dyck, Lehrer Johann Wall, Lehrer Heinrich Janzen mit Frau zusammen. Die Krankheit kam durch die vielen Flüchtlinge her. Wie uns gestern gesagt wurde, dann ist der Weg schon wieder ganz voll Menschen, die zum Winter herkommen, und wir wissen uns selbst nicht zu helfen. Man kann nur fertig werden, wenn man von allem absieht und allein auf den Geber aller Gaben sieht. Er kann helfen in allen Fällen. Ein Pud Weizen kostet hier 3 ein halb bis 4 Millionen, in Taschkent 10 Millionen. Abraham Dycken Kinder bestellen auch alle sehr zu grüßen, sie bestellen, ich solle alles sehr ausführlich beschreiben. Auch ich sende meine innigen Grüße mit denen von meinen Kindern an alle Freunde und Bekannte, ja an alle gewesenen Turkestaner. Ich bitte mein Schreiben in Liebe entgegen zu nehmen, und dann uns auch Briefe zu schreiben. Der alte Br. Jakob Mandtler bestellt auch alle Freunde und Bekannten zu grüßen. Ich bin Leonhard Dücken Helena, früher von Blumstein.
Ich hoffe auf ein Wiedersehen im Himmel.
Eure Freundin H.K.
Bemerkungen von E.Klassen (ohne Gewähr) –
Höchstwahrscheinlich gehört –
- die Schreiberin des Berichtes und ihr Bruder Abram Dyck zu der Familie Kröker und Dyck, die auf dem Bild auf der S. 25 unten abgebildet ist (s. das Bildband von R.Friesen „Die alte Heimat im Talas-Tal“);
- Fam. Mandtler zu der Familie, die auf dem Foto S. 42 unten links abgebildet ist (s. das Bildband von R.Friesen „Die alte Heimat im Talas-Tal“);
- Gerhard Dyck zu der Familie Dyck, die auf der S. 33 unten abgebildet ist (s. das Bildband von R.Friesen „Deutsche im Talas-Tal im 20. Jh.“)
- P.Pauls auf dem Foto S. 67 oben (hinten links), (s. (s. das Bildband von R.Friesen „Die alte Heimat im Talas-Tal“). |