Herzlich geliebter Bruder Abraham! 
                Wünsche  Dir vor allem den Frieden Gottres in Christo Jesu unserem Heilande, Amen! Nun,  lieber Bruder, habe schon seit Februar keine Nachricht von Dir, habe auch  selbst nicht geschreiben, weil die Wellen über mein Haus so hoch gingen – und  doch alles war beseitigt, und nichts ahnend, wurden wir dem 6. Mai [1931]  abends von 4 Mann überfallen: es war Dorfmiliz, Dorfsvorsteher, ein Komosomol  und einer aus der Wolost. Sie sagten uns, dass wir alle arretiert seien, keiner  dürfe hinaus oder herein, es war um 10 Uhr. Dann wurde uns befohlen, fertig zu  machen, um 4 Uhr morgens käme ein Fuhrwerk, welches uns nach Soroka fahren  werde, ich, Heinrich und Peter. Heinrich war gerade nicht Hause, kam aber bald.  Ich durfte zurückbleiben, wegen Alter und Arbeitsunfähigkeit. Essen mitnehmen  auf 3 Monate. Dann gingen 2 Man weg und von der Miliz und Komsomol wurden wir  bewacht, und morgens sahen wir unsere Jungens zum letzten Male – denke Dir,  Bruder, was das für uns abgab! Wir schafften die Nacht über. In Soroka  angekommen, wurden sie von der GPU ausgefragt und wurden beschuldigt, dass wir  unser Vermügen durch fremde Arbeiter erworben hätten. Alles Widerlegen und  Beweisen half nichts – sie mussten dort bis zum 4. Juni sitzen. So ging es  Heinrich Willms, Donskoj, Johann Willms, Pleschanow und unserm Franz. In dieser  Zeit wurde uns den 13. [Juni] das Vermögen aufgeschrieben, den 1. Juli  stimmlos gemacht und als Kulak gestempelt,  den 4. aufgefordert, fertig zu machen, um in die Verbannung geschickt zu werden  im Verlauf von 3 Tagen. Den 6. wurde uns alles weggenommen, den 8. die letzte  Kuh, Hockling, Kalb genommen, den 9. die Schweine, den 18. die Hühner, den 19.  Schafe, den 22. das Schmiedegeräte, den 24. nachts wurde uch und meine Frau  nach Klinok und die Greta und Liese den Jungens nachgeschickt. Ich und meine  Frau [Franz + Anna Martens] durften alterswegen nach Klinok, nur nicht in  Dolinsk, Donskoj oder Pleschanow. Die Männer wurden schon den 5. [Juli?]  abgeschickt und so sind wir jetzt von allem entblößt und beraubt in Klinok bei unseren  Kindern P.Martens. Wie lange, wissen wir nicht. – Wir haben noch unsere eigene  Nahrung. Ich war wacker und    . – Die  Kleider wurden uns alle gelassen. Von den Betten wurde uns ein Unterbett, eine  Decke und 5 Kissen genommen. Die Wäsche bliebe uns auch. Vom Möbel blieb Gretas  Bettgestell und Kommode als Erbgut  von  der Mutter. Als wir sahen, wo es hinging, kamen die Schwiegersöhne und halfen –  dich wir sind beraubt – und haben nichts Eigenes, wo wir unser Haupt hinlegen.  Laut dem letzten Brief vom 20. sind die Kinder jetzt alle beisammen; sie sind  2200 Werst von hier ab, 85 Werst von der Stadt Akmolinsk. Frage Jakob  Wittenberg, der wird wissen; es ist rechts von Omsk. Sie haben es im  Natürlichen nicht schlecht. Dorthin wurden mit ihnen noch 1700 Mann Russen u.a.  geschickt. Sie schreiben, es war schrecklich anzusehen, als eine solche Schaf  von Menschen zu Fuß die 85 Werst unter Polizeiwache musste marschieren. Franz  [Martens] ist da Schreiber, Heinrich [Martens] Schlosser, Peter [Martens] fährt  mit der Harkmaschine, sie machen Heu. Die Mädchen wissen wir noch nicht. Jakob  [Martens] wurde auch schon den 7. Januar auf 1 Jahr eingezogen. Er muß 35 Werst  von Samara an der Wolga Steine brechen zum Kalk brennen, wurde auch kahl  gemacht – jetzt aber ist erauch weggeschickt. Der letzte Brief war von  Smolensk. Jetzt stelle Dir, lieber Bruder, mal vor: das Vermögen geraubt, die  Kinder in der Verbannung, ich und die Frau alt und arbeitsunfähig. Was das  kostet, kann ich Dir gar nicht beschreiben. Ach, Bruder, was hat das schon für  Tränen gekostet! Ich weiß, Du fühlst mit. Die Kinder in Asien müssen unter  freiem Himmel wohnen, bekommen satt zu essen, aber nur rusch (auf russischer  Art zubereitet). Ihnen ist dort vorgelesen, sie seien freiwillige Aussiedler. –  Denke Dir, lieber Bruder, ist das möglich? Die Kinder schreiben, was da für  Elend an der Bahn ist, das ist schrecklich. 16 Tage haben die Mädchen und  Frauen am Bahnhofe zugebracht, unter freiem Himmel, 3 Werst einen Eimer Wasser  geholt. Und was soll ich nich schreiben? Hier ist eine vollständige Missernte:  3 bis 8 Pud von der Dessjatine, Vorrat ist keiner, was wird das geben? Ich und  die Frau haben keine Rechte, bekommen auch kein Brot, nur aus Gnade konnten wir  zurückbleiben. 
                Die  Menschen hier arbeiten im Kollektiv, bekommen Brot aber keine Kopeke;  angeschreiben wird, aber – unsere Kinder hatten noch vom vorigen Jahr über 400  Rubel zu bekommen, aber alles ist weg. Das Budget muß gefüllt werden. Die  Menschen sind buchstäblich Sklaven, denn wenn wo Menschen fehlen, dann werden  von der anderen Stelle hingeschickt. Die im Kollektiv haben noch eine Kuh, den  anderen wurde vorige Woche die letzte genommen. „Geh in den Kollektiv, dann  kannst du sie behalten,“ hieß es – aber es geht keiner mehr. 
                Bin  zweimal in Donskoj zu Fuß gewesen. Unser Haus steht ganz leer und öde. Wir  haben noch im Garten alles gepflanzt, aber alles ist weg. Jetzt bitt ich Dich,  lieber Bruder, las diesen Brief in eine Zeitung einsetzen, damit unsere Kinder  und der Frau Geschwister es zu wissen bekommen, was mit uns vorgegangen ist.  Wenn Du es nicht verstehst, frage Jakob Wittenberg, der versteht es, grüße sie.  Sein Bruder Peter wird mit bald folgen. 
                Gruß  von Deinen Dich nie vergessenden Geschwistern, Franz und A. Martens. 
                Wenn Du  schreibst, dann adressiere an Helena Weiß, Jugowka, dann bekomme ich ihn.  Vorige Woche ist ein Brief im Postamt gewesen für mich von Amerika, aber  verschwunden. 
                Als ich  bis hier geschreiben hatte, bekamen wir einen Brief von Jakob. Er ist in der  Stadt Minsk, 40 Werst von der polnischen Grenze, muß dort Steine schlagen zum  Chausee machen; also Zwangsarbeit, die es in Russland nicht gibt,alles  freiwillig – ist solches zu glauben? 
                Daß es  uns so geht, haben unsere deutschen Armen gemacht. Denke mal,  so weit herunterzukommen! Da ist in Jugowka  Matthies Familie, Sarah Löwen, Anna Heinrichs hat schon die Franzosen hier,  David Wiensen Familie usw. Die Sorte haben alle Rechte, wenn die was sagen,  dagegen kann ein ganze Dorf protestieren – es hilft nichts. – Nun ich schließe,  grüße Johann Görzens mit Familie und alle Bekannte. 
                Der  Dollar war 1 Rub 94 Kopeken. Ach wie glücklich ist derjenige, der nicht in  Russland sein darf. Was meinst, geht es noch ein Erlösung für uns hier auf  Erden? Uns ist die Hoffnung ganz geschwunden. Früher erlaubten andere Reiche  solches nicht, was hier vorgeht. 
                Dein  tiefbetrübter Bruder, Franz [Martens] 
  
Bemerkung von Andreas Tissen: 
Dieser Brief wurde von diesen Franz  Martens (P7837) Foto geschrieben.   |