Einfach und Arm

etliche Bemerkungen ueber das Schicksal der historischer Auslegung der Geschichte der Russlandmennoniten,
von Delbert Plett, Steinbach, Manitoba, Kanada.


                                  Das Schicksal.


In der Geschichte der Russlandmennoniten steht die Geschichte von Jakob Hoeppner, als ein
Mittel- oder Wendepunkt in der Auffassung der Entwicklung eines Volkes. War Hoeppner falsch
verklagt worden, oder war die flaemische Gemeinde in Chortitza 1789 wirklich so einfach und
arm, wie die Historiker es bezeichnet haben?
Hoeppners Klagen ueber seine Lebenslage kommen meistens aus den Schriften seines
Schwiegersohnes Peter Hildebrand, der natuerlich seinen Schwiegervater sehr stark verteidigt.
Es muss betont werden, dass Hoeppner ein Mitgenosse der leitenden Regierungsmaenner in
Suedrussland war, wo Schmiergeld und Influenz gewoehnlich viel ausmachten, und dass er
trotzdem von einem russischen Gerichtsamt fuer schuldig erklaert wurde.

Hoeppner war der Vermittler fuer die Mennoniten bei Potjomkin und sein Mitarbeiter.
Die neuen Ansiedler verdaechtigten ihn: warum sie nun auf einmal nicht das versprochene
Land bei Berislaw besiedeln durften und sich auf Potjomkins persoenlichem Land am Chortitza
Fluss ansiedeln sollten. Dieses machte Potjomkin wahrscheinlich einen grossen Gewinn.
Natuerlich fuehlten die Pioniere sich verraten.

Der besondere Gerichtsspruch gegen Hoeppner war wahrscheinlich, dass er ein Teil der
Unterstuetzungsgelder der Ansiedler fuer sich selbst gebraucht hatte. Es ist zu verstehen,
dass die Beschuldigungen gegen Hoeppner etwas nebensaechlich waren. Die Ansiedler verloren
auf der Reise und spaeter vieles von ihrem persoenlichen Vermoegen, und durch Diebstahl auch
Holz und Pferde. Viele starben durch Krankheiten, weil auf diesem Platz fuer die neue Ansiedler
nichts bereit war. Trotzdem war es Hoeppner moeglich gewesen, eines der groessten Haueser in
der Kolonie Chortitza, auf dem gewuenschten Platz auf der Insel Chortitza, dem Kirschgarten,
den Potjomkin fuer sich selbst angelegt hatte, zu bauen. Natuerlich entstand Unzufriedenheit,
und Hoeppner war wegen Vernachlaessigung der Einwanderungssache beschuldigt worden.

Die Frage blieb: wurde Hoeppner unrecht behandelt oder hatte Hoeppner die Gemeinde und
seine Gemeinschaft veruntreut? Hat Hildebrand mit einer falschen Klage die flaemische  Gemeinde
unter eine dunkle Wolke gesetzt?

                                 Die Historiker.

Spaetere Historiker wie Heinrich Heese, D. H. Epp, Franz Isaak, und besonders P. M. Friesen
brauchten Hildebrands negativen Berichte um ihre eigene Ansichten zu bestaetigen. Ihre Ansicht
war die, dass die ersten Ansiedler nur arme, einfache und schlechte Leute waren, dass das
mennonitische Volk verfallen und verdorben war, und dass es nur durch Bekehrung zum
Separatist-Pietistmus und durch das Annehmen der Reichsdeutschen Kultur und des russischen
Nationalismus, zu retten war.

Diese Schule der historischen Auslegung hat Henry Schapansky die "Pro-Zarist Schule" genannt
und bezeichnet so die Gruppe, die besonders von dem russischen Nationalismus angeregt war.
Lehrer Heinrich Heese (1787-1868), war ein Vertreter der Pro-Zarist Bewegung. Seine Gedichte
brennen heiss mit Patriotismis und Liebe fuer sein Russisches Vaterland (Siehe P. M. Friesen,
Bruderschaft, Seite 580).

Heinrich Heese schreibt von den Chortitzer Mennoniten: "Die Mennoniten hier waren auch
nich die aufrichtige Sorte, was ich in Pommersdorf, Deutschland, kennen gelernt hatte. Ihre
Armut und ihren Mangel an Verstaendnis transformiert sie zu einer niedrigen Sorte der Kreatur,"
(Mennonite Life (April 1969), Seiten 66-68).

Andere (so wie ich) sprechen manchmal von der "Molotschnaer Pietistisch-
Truimphalistischen" Bewegung. Besser gesagt, alles von der Seite des Pietistmus und der
Molotschna wurde als besser angesehen. Die Historiker haben Hildebrand seine einseitige
Aufzeichnungen gebraucht um ihre Thesen zu rechtfertigen.

Peter M. Friesen ist hier besonders zu bemerken. Seine These war, dass der Separatist-
Pietistische religioese Kultur die vollkommene Erfuellung der Vision von Menno Simons war. In
Wirklichkeit aber war dieses eine ganz falsche Vorstellung. Dieses waere ja eine laecherliche
Auslegung, waere da nicht der traurige Fall, dass so viele Tausende von Mennoniten in diesen
Irrtum gefallen sind. Es ist zum Staunen, wenn man P. M. Friesen sein Buch liest, wie er
versucht die Tatsachen erst einen Weg und dann den anderen Weg zu lenken, um seine
mennonitschen Vorfahren dunkel und schlecht zu "faerben", allein nur um seine Ansichten
bestaetigen zu koennen.

P. M. Friesen beginnt seine Geschichte der Russlandmennoniten mit einem schrecklichen
Ausdruck ueber die Mennoniten in Preussen wie folgt: "Eine grosse Verarmung und damit ein
Sinken des kulturen und religioes-sittlichen Zustandes der einst so beruehmten Mennoniten
Gemeinden nahm schreckenerregend zu. Viele waren bis zu dampfer Hoffnungslosigkeit entmutigt."
(P.M. Friesen, Bruderschaft, Seite 71).

P. M. Friesen seine Anssicht, war wahrscheinlich nicht nur, dass die ersten Ansiedler einfach
und arm, und eine Unterschicht der Menschheit waren, sondern auch, dass ihre Kultur schlecht
und grob war. Zum Bespiel, ueber das alte, poetische und farbenreiche Danziger Hochdeutsch
seiner Vorfahren, schrieb er wie folgt: "...dem vielbelachten
amerikanischen `Pennsylvania-Deutsch' ebenbuetig zur Seite gestellt werden kann
und gewiss schlechter ist, als das belaechelte Deutsch der `Onkel=Tantenbriefe' in der
"Mennonit. Rundschau'," Seite 527.

Fuer die plautdeutsche Umgangssprache seines Volkes schaemte er sich wahrscheinlich
noch mehr. Professor Paul Schach, Universitaet von Nebraska, hat ueber diese selbtserwaehlte
"gelaernte lait" in den Doerfern geschrieben und bemerkt, dass solche Ansichten ein Mangel
von Verstaendnis der linquistischen Geschichte bezeichnet (Journal of the A.H.S.G.R., Vol. 7,
Nr. 1, Seiten 21-25). Von P. M. Friesens grosser Kulturfeindlichkeit gegen die Konservativen
Mennoniten ist viel in seinem Buch, besonders in Teil zwei (Seite 71 u.s.w.), nachzulesen.

Alle Tatsachen und Dokumenten der preussischen und russischen Mennoniten bezeichnen,
dass Friesens Begriffe ganz falsch waren. Die vielen Tagebuecher, Briefe, Predigten und
andere Schriften bestaetigen das. Aber ohne Tatsachen, ohne Bezeichnungen faengt P. M. Friesen
seine Geschichte so an. Fuer ihn war das eine "Taufgesinnten Krahnkeit" (Seite 28), wenn Leute
sich zu dem fanatischen Glauben der Separatist-Pietismus bekehrten und dann ihre frueheren
Bruedern und Schwestern verrieten und arbeiteten, um ihre alten Gemeinden zu zurreissen und
ihre jungen und bekuemmerten Leute gegen ihre Gesellschaften zu lenken.

Man muss gerade denken: Was haben diese frommen, christlichen Glaeubigen jemals ihm
angetan, dass er sie so schwerwiegend angreift. Man fragt sich auch, wieviele kluge, junge
Maenner, sowie P. M. Friesen, werden zu den auslaendischen Bibelschulen geschickt, wo sie mit
fanatischen Irrtuemern vollgestopft werden. Dann kommen sie zurueck in ihre Doerfer, in die
alte Heimat, mit der Mission--ihre Gemeinden und Familien zu zerreissen.

Die Erfolge dieser historischer Auslegung waren gross. Nach Ende des Ersten Weltkrieges
war das mennonitische "Commonwealth" in Russland in Flamen und zerschlagen. Aber P. M.
Friesen seine falsche Auslegung bleibt bestehen und wird immer weiter in der Geschichte der
Russlandmennoniten entwickelt.

In 1974 schrieb Geschichtler Frank H. Epp in seinem Buch, Mennonites in Canada (Toronto
1974), dass die Mennoniten die in den 1870er Jahren nach Manitoba einwanderten, "...meistens
die Nachkommen dieser Armen und Einfachen Pioniere waren, was mal in dem frueheren Jahrhundert
Preussen verliessen fuer Russland," (Seite 195). Die Meinung war, dass die ersten Pioniere in
Chortitza 1789 "Arme und Einfache" waren, so zu sagen eine niedrige Klasse von Untermenschen,
im genetischen, moralischen, oekonomischen und kulturellen Wesen und Sinne. Epp bezeichnet
dazu, dass die konservativen Mennoniten, die nach Kanada in den 1870er Jahren auswanderten,
ihre Nachkommen waren.

                                 Bedeutung.

Die Frage ueber Hoeppners Lage ist wichtig. Wenn Friesen die flaemische Ansiedler von 1789
verdunkeln konnte, dann sind auch ihr Schulwesen, Glaubens-Konfession, Institutionen, ihre
Sitten und Traditionen zu verurteilen. Sogar die Reformierten der Kleinen Gemeinde in der
Molotschna bringt Friesen in Verdacht, wobei er den orthodoxen mennonitischen Glauben und
traditionelle Kultur verurteilte (Siehe "Separatist-Pietism," aus Preservings, Nr. 12,
Seite 12-16).

Also P. M. Friesens falsche Auslegungen, die mit Hoeppners Lage anfingen, haben noch immer
grosse Bedeutung fuer das mennonitische Volk, wie heute so auch in der Zukunft. Frank Epp
schrieb darueber, was unter den sogenannten evangelischen und liberalen Mennoniten, als
allgemeine Tatsache verstanden wird. Also, wenn P. M. Friesens Begriffe richtig sind, dann
ist es wahrscheinlich in Ordnung, wenn die konservativen Mennoniten in Mexico, Paraguay und
Bolivien, und sogar in Kanada, auch noch als Untermenschen behandelt werden.

                                 Pro-Zarist Schule.

Henry Schapansky schreibt, dass Peter Hildebrand selbst kein Mennonit war. Er war erzogen als
Lutheraner. Er hatte kein Verstaendnis oder Respekt fuer die mennonitischen Institutionen
und aemter, deswegen waren seine Ansichten ueber die flaemischen Gemeinden (eigentlich
richtiger gesagt - eine demokratische Organisation) sehr negativ. Wahrscheinlich ist
Hildebrand ein Mennonit geworden zum Teil, weil ihm dieses eine Gelegenheit bot, in
Russland zum Landeigentuemer zu werden, wofuer er in Preussen nicht die Gelegenheit haette.

Es ist verstaendlich, dass Hildebrand seinen Schwiegervater verteidigen wollte. Hoeppners
Seite zu diesem Streit ist streng und klar durch Hildebrand vorgetragen worden. Aber niemand
hat es von Seiten der flaemischen Gemeinde jemals nachgeforscht und vorgetragen.

Henry Schapansky schrieb, dass "Verschiedene Ansichten ueber die Rolle der
Gemeinde, der aeltesten, der Gemeinschaft, und des zaristischen Reiches, haben mit der
Unzufriedenheit ueber Hoeppner zu tun." Schapansky bemerkte, dass Hildebrand die
aeltesten und Lehrdienst mit dem Pastor einer lutherischen Kirche vergleicht, welcher ein
Abgeordneter ist, und alles mit seiner Autoritaet regeln konnte. Der mennonitische aeltester,
im Gegenteil, war ein demokratisch Gewaehlter, und mehr als ein Vorsitzender einer
Gesellschaft, der seine Herde leitet. Der aeltester arbeitet nur mit Zustimmung und
Bestaetigung der Mehrheit der Glieder.

In der Geschichte der Russlandmennoniten kommt es auch zu einem Streit zwischen der Autoritaet
der Gemeinde und der seculaeren Macht, so wie dem Gebietsamt oder Johann Cornies mit dem
Landwirtschaftlichen Verein, oder hier der Autoritaet der Delegaten. Mit der Zeit kommt
die seculaere Authoritaet in die ueberhand in Russland. Aber unter den konservativen
flaemischen Gemeinden und ihren Nachkommen in Nord und Suedamerika ist heutzutage noch
immer der demokratische Sitz die Gemeinde die hoechste Macht, also eine Abteilung der Kirche
Gottes. Man kann es mit dem Volk Israel im Alten Testament vergleichen, als sie nicht mehr
zufrieden waren mit einem Richter von Gott eingesetzt und lieber einen irdischen Koenig
ueber sich haben wollten.

Man muss auch zugeben, dass die Reiberei zwischen den Friesischen und Flaemischen Gemeinden
auch noch zu der Hoeppner Sache zugetragen hat. Die Flaemische Gemeinde in Preussen war
immer die groessere und maechtigere, und hier war eine Gelegenheit zurueck zu schlagen.
Weil die Friesische Gemeinde sich in gewissen Hinsichten mehr mit P. M. Friesens Begriffe
resonierte, hatte er wahrscheinlich ihre Seite unterstuetzt.

                                 Beschluesse.

Man kann auch zugeben, dass Hoeppner sicher nicht in allen Stuecken richtig behandelt worden
ist. Viele andere Beamten haben wahrscheinlich Schmiergeld genommen, sind aber nicht
gerichtlich verklagt worden.

Es ist auch als ein Kulturkampf anzusehen. So werden Dinge getan in diesen Zeiten und
russischer Umwelt, aber es war nicht so sittlich in den flaemishen Gemeinden.

Man muss sich aber auch daran erinnern, dass Hoeppners Mitarbeiter Bartsch gleich Abbite
machte und friedlich zurueck in seine Gemeinde und Gemeinschaft aufgenommen worden ist.
Weil Hoeppners Mitarbeiter seine Schuld zugab, war die Sache fuer Hoeppner noch schlimmer.
Diese Tatsache scheinbar vergessen P.M. Friesen und seine Genossen zu bemerken. Diese
Vergebung und Rueckkehr in seine Gemeinde bezeugen nicht einen Geist der Racheuebung in
der flaemischen Gemeinde, viel mehr einen Geist der wahren chrislichen Liebe und Vergebung.

Die obenstehende Bemerkungen sollten auch nicht so verstanden werden, dass sie Hoeppners
leitende Rolle in der Auswanderungsgeschichte beschmutzen. Ihm ist trotz allen
Missgeschicke eine grosse Ehre und Ruhm zutragend. Die Frage ist nicht, war die
Flaemische Gemeinde schlecht oder war Hoeppner schlecht. Es ist nicht noetig dass man
zwischen diesen Beiden waehlen muss.

Ich stimme mit Prediger D. H. Epps Vorschlaege mit, dass Hoeppner eine viel groessere
Anerkennung zutrift, als er bekommen hat. Bestimmt muss man auf seinem Beerdigungsplatz,
auf der Insel Chortitza nochmal ein schoenes Denkmal aufsetzen.

Man muss aber trotzdem die Tatsachen mal unparteiisch verhandeln. Die parteiischen Ansichten
eines Schwiegersohnes sind nicht annehmbare Bezeichnungen, die ein ganzes Volk verurteilen
konnten.

Bis jetzt hat niemand die Seite der flaemischen Gemeinde vorgetragen und untersucht. Wir
sind Henry Schapansky dankbar dafuer, dass er uns auf die Sache aufmerksam gemacht hat.
Wenn P. M. Friesen und seine Mitgenossen durch Hoeppners Lage die erste flaemische Gemeinde
und Ansiedler vernachlaessigen konnten, dann koennten sie auch alle spaeteren Tatsachen
umdrehen und verdunklen, um ihre eigene religioese Ansichten an den Gipfel zu bringen.

In Wahrheit muss man zugeben, dass alle Tatsachen beweisen, dass die ersten flaemischen
Ansiedler lange nicht so "einfach und arm" waren, als die obenerwaehnte Historiker es betonen.
In Wirklichkeit waren sie kluge, treue Glaeubige, die unter grossem finanziellen Mangel und
anderen Versuchungen eine bluehende Kolonie gruendeten. Sie hatten eine biblische Lehre,
einen gueltigen Glauben und eine demokratische Gemeinde-Ordnung. Bis zum Ende des Jahrhunderts
hat die Chortitza Kolonie (Alt-Kolonie) sich zu einem Beispiel der Gemeinsamkeit und einem
Industrie-Zentrum in ganz Suedrussland entwickelt.

Mein Beschluss ist, dass die flaemische Gemeinde in Chortitza falsch beklagt und beurteilt
in der Geschichte der Russlandmennoniten worden ist. Das Schicksal dieser Frage hat grosse
Bedeutung fuer das Mennonitische Volk. Die Ansichten der obenerwaehnten Geschichtler tragen
zu einem bestimmten Rassimus seitens der pietistischen und evangelistischen Mennoniten
gegenueber den Konservativen, bei.



Zum Nachlesen:

H. Schapansky, "Peter Hildebrand, From Danzig to Russia: A book review essay," in
Preservings, Nr. 16, Seiten 126-128;

Henry Schapansky, "The Emigration from Prussia to Russia; Towards a Revisionist
(Chortitza/Old Colony) Interpretation of Mennonite History," in Preservings, Nr. 14, Seiten
9-14;

D. Plett, "`Poor and Simple?': The Economic Background of the Mennonite Immigrants to
Manitoba, 1874-79," in Journal of Mennonite Studies, Nr. 18, 2000, Seiten 114-128, verkuerzt
und neu herausgegeben als "Poor and Simple," in Preservings, Nr. 15, Seite 15-16.

David G. Rempel, "From Danzig to Russia the First Mennonites Migration," in Mennonite Life
(Januar 1969), Seiten 8-28.




Quelle: Diese Steine, die Russlandmennoniten. A. Reger, D. Plett. 2001. Manitoba S. 73-76


Zuletzt geaendert am 22 Dezember 2004